Wie sieht es ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei aus?

"Man will einen Mythos schaffen"

Der 15. Juli ist in der Türkei ein Feiertag: Gefeiert wird das Scheitern des Militärputsches vor einem Jahr. Der Journalist Christian Feiland erzählt im domradio.de-Interview davon, wie sich die Türkei seitdem verändert hat.

"15 Temmuz Destani", also "Der Mythos des 15. Juli" steht auf der Pressekarte für die Feierlichkeiten um den 15. Juli / © Christian Feiland (privat)
"15 Temmuz Destani", also "Der Mythos des 15. Juli" steht auf der Pressekarte für die Feierlichkeiten um den 15. Juli / © Christian Feiland ( privat )

domradio.de: Am 15. Juli 2016 - vor einem Jahr also - scheiterte ein Putschversuch in der Türkei. Wie begeht die Türkei den ersten Jahrestag?

Christian Feiland (TV-Journalist und Produzent): Der 15. Juli ist zum offiziellen Feiertag erklärt worden. Es gibt zum Beispiel schulfrei und viele öffentliche Einrichtungen haben geschlossen. Seit Tagen schon wird der Jahrestag des Putschversuches auf allen Ebenen gefeiert und es wird der Opfer gedacht. Man hat sogar Straßen, Plätze und Gebäude zum Ehren der Opfer und des Ereignisses umbenannt. Die Bosporus-Brücke heißt schon seit fast einem Jahr "Die Brücke der Märtyrer des 15. Juli". Heute gibt es überall in der Türkei Veranstaltungen. In Ankara und Istanbul finden die größten Gedenkfeiern statt. Die Bosporus-Brücke wurde zum Beispiel ab dem Mittag für den Verkehr gesperrt, damit am Abend dort den Opfern gedacht werden kann. In der Nacht auf Sonntag wird Präsident Erdogan in Ankara eine Rede halten; und zwar ganz genau um 2:32 Uhr Ortszeit, dem Zeitpunkt als das Parlament vor einem Jahr zum erstem Mal bombardiert wurde.

domradio.de: Sie leben seit gut 20 Jahren in der Türkei. Wie hat sich das Land seit dem Putschversuch verändert?

Feiland: Was in Deutschland zum Beispiel über die Situation der Journalisten hier berichtet wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Für sehr viele Menschen hat sich das Leben komplett verändert. Im Zuge der Zerschlagung der Putschisten hat die Türkei viele zum Teil notwendige, aber auch sehr umstrittene Maßnahmen eingeleitet. Es wurden gut 140.000 Beamte vom Dienst suspendiert, gefeuert oder versetzt. Mehr als 50.000 Menschen wurden in U-Haft genommen. Einige sind seit mehr als acht Monaten inhaftiert, haben aber noch immer keine Klageschrift einsehen können, geschweige denn, dass ihr Verfahren schon angefangen hat. Teilweise sind Leute gefeuert worden, weil sie ein Konto bei der falschen Bank hatten oder einfach nur basierend auf Hörensagen. Teilweise sind sie sogar für mehrere Tage oder Monate eingesperrt worden. Eine echte Hexenjagd hat begonnen, gegen die sich die Betroffenen wegen des Ausnahmezustands kaum wehren können. Ihre Anwälte werden sogar verbal angegriffen oder ebenfalls eingesperrt; weil sie angeblich eine Terrororganisation unterstützen würden. Es gibt viele Menschen die vor dem finanziellen Ruin stehen, weil sie - ohne genau zu wissen warum - auf schwarzen Listen der Regierung stehen und keinerlei staatliche Unterstützung mehr bekommen. Die Opposition wirft der Regierung vor, den Putsch als Mittel zum Zweck zu benutzen, um Kritiker und Opposition mundtot zu machen.

domradio.de: Sie sprechen es an: Seit einem Jahr befindet sich die Türkei im erklärten Ausnahmezustand. Nun ist ein Jahr schon eine so lange Zeit, dass der Begriff "Ausnahme" vom Wortsinn kaum noch passt. Wie rechtfertigt sich dieser Zustand vor der Bevölkerung?

Feiland: Die Bevölkerung ist verunsichert und verängstigt. Das Vertrauen in die Justiz ist auf einem Tiefstand. Das zeigte auch die große Teilnahme aus allen Bevölkerungsschichten am "Marsch der Gerechtigkeit" vor wenigen Tagen. Die Regierung sagt, das Land werde vom Terror gepackt und der Ausnahmezustand sei nötig, um das Land zu schützen. Aber der Großteil der Bevölkerung denkt, dass Richter, Polizisten oder Akademiker, die nicht im Sinne der Regierung handeln, versetzt oder entlassen werden - dank der Dekrete des Ausnahmezustandes. Gestern erst wurden wieder gut 7.300 Beamte entlassen. Und dann gibt es auch die, die der Regierung völlig vertrauen und ihr zustimmen. Die weisen dann gerne auf Frankreich hin und sagen, dass es dort ja genauso gehandhabt werde. Dass die Gesetze und Umstände dort ganz andere sind, wird nicht beachtet.

domradio.de: Erfahren Sie persönlich auch mehr Einschränkungen seit dem 15.07.2016?

Feiland: Nein, im Privatleben bekomme ich davon fast gar nichts mit. So geht es den meisten, es sei denn, einer hat einen Freund oder Verwandten, der entlassen oder eingesperrt wurde. Ich selbst kenne einige, Kollegen und Bekannte, die meiner Meinung nach höchst wahrscheinlich unschuldig sind. Beruflich gesehen wird es immer schwieriger, auf öffentlichen Plätzen zu drehen. Wir werden auf Drehs oft kontrolliert oder gestoppt, aber die Offiziellen behandeln uns zumindest meistens höflich. Von Menschen auf der Straße werden wir dagegen immer häufiger verbal angegangen. Es heißt dann, dass wir "Spione" seien, die der Türkei nur schaden wollen. In dem Rahmen wird es auch immer schwieriger, kritische Menschen und Meinungen vor die Kamera zu bekommen.

domradio.de: Aus Protest gegen die Regierungspolitik hat die kemalistische Oppositionspartei CHP einen Marsch organisiert: Von Ankara aus sind Politiker und Aktivisten innerhalb von knapp drei Wochen bis ins 450 km entfernte Istanbul gelaufen. Dort gab es dann Anfang Juli eine Kundgebung, zu der bis zu zwei Millionen Menschen gekommen sein sollen. Was hat diese Aktion gebracht?

Feiland: Der Marsch hat den Menschen Mut gemacht, ihnen Hoffnung gegeben. Sie haben gesehen, dass sie noch da sind und es der Regierung zeigen können. Allerdings wurde die Aktion in den Proregierungsmedien als Unterstützung für den Terror dargestellt und bei der Kundgebung waren laut Gouverneur angeblich nur 170.000 Menschen anwesend. Zwei Millionen waren es vermutlich nicht, aber selbst Präsident Erdogan sagte: "Wir haben den gleichen Platz komplett gefüllt und es waren zwei Millionen. Dieses Mal waren es nur unbedeutende 170.000". Nur zeigen die Luftaufnahmen, dass der Platz genauso rappelvoll war. Somit ist es logisch, dass entweder bei beiden Veranstaltungen 170.000 oder zwei Millionen Menschen waren. Was jetzt nach dem Marsch passiert, ist eine gute Frage...

domradio.de: Von der türkischen Regierung heißt es: Der Putschversuch wurde vom Volk niedergeschlagen. Wie stehen denn die Türken mittlerweile zum Putschversuch?

Feiland: Da gibt es noch sehr viele offene Fragen und ein großer Teil der Bevölkerung glaubt die offizielle Version nicht ganz. Es wird versucht einen Mythos zu erschaffen, um andere von Atatürk geprägte Feiertage zu verdrängen. Das finden viele gut, aber macht sehr vielen anderen große Angst und es macht sie wütend.

domradio.de: Mehr als 150.000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem versuchten Putsch entlassen worden, der Ausnahmezustand hält an, die Wirtschaft des Landes stagniert: Wie schätzen Sie die Zukunft der Türkei ein?

Feiland: Sehr viele gut ausgebildete Türken verlassen die Türkei. Ich kenne mindestens zehn, die sich Jobs in der EU oder Amerika besorgt haben und schon weg sind. "Brain drain" heißt das, wenn die Elite geht. Der Türkei fehlen immer mehr gute Leute, die das Land voran bringen können. Auch die Deutsche Wirtschaftskammer betonte, dass ohne Vertrauen in die Justiz kaum neue Investitionen gemacht werden könnten. Der Tourismus schwächelt, die Inflation steigt. Immer mehr Unternehmen haben Probleme. Die Prognosen und Stimmung sind also nicht besonders gut im Moment.

Das Interview führte Marion Sendker


Eine Türkei-Flagge weht vor der Bosporus-Brücke, die seit einem Jahr einen neuen Namen hat: Brücke der Märtyrer des 15. Juli / © Marion Sendker (DR)
Eine Türkei-Flagge weht vor der Bosporus-Brücke, die seit einem Jahr einen neuen Namen hat: Brücke der Märtyrer des 15. Juli / © Marion Sendker ( DR )
Quelle:
DR