Die "Tragweite sei erheblich", die "Interessen der gesamten Menschheit berührt": Selten nutzt der Deutsche Ethikrat in seinen Empfehlungen an die Politik eine solch eindringliche Sprache. Worum geht es? Wissenschaftlern ist es mit neuen Verfahren gelungen, bestimmte Teile der Keimbahn menschlicher Embryonen zu entfernen oder durch andere zu ersetzen. Sie hoffen, damit Erbkrankheiten therapieren zu können. Was auf den ersten Blick verheißungsvoll erscheint, birgt zugleich hohe Risiken und wirft ganz neue ethische Fragen auf.
Genomchirurgie auf die Agenda des Bundestags
Am Freitag veröffentlichte das Gremium aus 26 Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen eine Stellungnahme, in der es den neu gewählten Bundestag und die künftige Bundesregierung dazu auffordert, ein forschungsethisches Thema vorn auf die Agenda der Wahlperiode zu setzen: die sogenannte Genomchirurgie, die Eingriffe in die menschliche Keimbahn – das früheste Entwicklungsstadium des Menschen – mit möglicherweise weitreichenden Folgen ermöglicht.
Die technischen Möglichkeiten des Genome-Editings – so ein anderer Fachbegriff – würfen komplexe und grundlegende ethische Fragen auf, heißt es in dem Papier. Die Anwendung kann die gesamte Menschheit betreffen.
Selten einstimmiges Signal
Die Stellungnahme des Ethikrats wurde den Angaben zufolge am Donnerstag einstimmig verabschiedet - auch das ein Signal der Dringlichkeit, denn Empfehlungen des Gremiums wurden in der jüngeren Vergangenheit vermehrt durch Mehrheitsvotum oder mit Sondervoten verabschiedet, weil in dem vielfältig besetzten Gremium in kniffligen ethischen Fragen verschiedene Auffassungen blieben.
Hintergrund des nun einstimmigen Appells ist, so heißt es im Papier, "dass die Forschung auf diesem besonders sensiblen Gebiet erheblich schneller voranschreitet als erwartet und damit zumindest in einigen Staaten Fakten geschaffen werden". Angesichts der grundlegenden Auswirkungen für das "menschliche Selbstverständnis" drängt der Ethikrat nicht zuletzt die neue Bundesregierung, die offenen Fragen systematischer Genommanipulation intensive weltweit zu erörtern und zu regulieren.
Gen-Schere Crispr-Cas9 verändert DNA
Anfang August wurde bekannt, dass es Forschern der Universität in Portland (USA) gelungen war, in der DNA eines künstlich erzeugten Embryos eine Mutation zu beheben, die eine schwere Herzkrankheit verursacht. Wissenschaftler und Ethiker weltweit schreckte diese Nachricht auf. Möglich wird diese Forschung durch die Entdeckung der sogenannten Gen-Schere Crispr-Cas9, mit der präzise, effizient und kostengünstig Teile der DNA beschnitten, gelöscht oder verändert werden können.
Bereits vor zwei Jahren schreckten chinesische Forscher die Fachöffentlichkeit durch ihre Versuche auf, mit Hilfe des Genom-Editings an künstlich erzeugten menschlichen Embryonen die Veranlagung zur Sichelzellenanämie, einer vererbten Bluterkrankung, zu korrigieren oder eine Resistenz gegen HIV-Aids zu erzeugen. Das Verfahren war aber noch stark fehlerbehaftet.
Verfahren "moralisch hochgradig strittig"
Schon nach den chinesischen Versuchen forderten führende Wissenschaftler ein Moratorium für das Genom-Editing an menschlichen Embryonen. Ein internationales Gipfeltreffen in Washington zu dem Thema verwies auf die hohen Risiken. Viele Fachgremien wie auch der Ethikrat bewerteten die Technik als "moralisch hochgradig strittig".
Dennoch gab ein eigens einberufenes Komitee der US-amerikanischen Nationalen Akademien für Wissenschaft und Medizin Anfang des Jahres eine Empfehlung heraus, die eine entscheidende ethische Neubewertung vornahm: Sie wechselt von einem "Nicht-Erlauben, solange die Risiken nicht geklärt sind", zu einem "Erlauben, wenn die Risiken besser eingeschätzt werden können".
Aus Sicht des deutschen Ethikrats konzentrieren sich die US-Akademien damit auf eine "an einzelnen formalen und materialen Kriterien orientierte grundsätzliche Erlaubnis".
Eingriffe in menschliche Keimbahn betreffen Generationen
Die Eingriffe sind auch bei Pflanzen und Tieren sowie an Zellen Erwachsener möglich. Insbesondere Eingriffe in die menschliche Keimbahn - dem Vorstadium des Embryos - sorgen für ethische Vorbehalte, da die Veränderungen weitervererbt und das menschliche Genom dauerhaft modifiziert würden.
Erstmals in der Wissenschaftsgeschichte gehe es um medizinische Maßnahmen, die nicht nur einwilligungsfähige Patienten oder ein ungeborenes Kind betreffen, "sondern Generationen noch nicht gezeugter Nachkommen unbestimmter Zahl", schreibt der Ethikrat. Das sei "moralisch anders zu beurteilen".
Soziale und gesundheitliche Ungleichheit
Zu den Risiken gehören laut Ethikrat etwa ungeklärte mögliche Folgen der Manipulationen für den Organismus, da Genaktivitäten von viele Faktoren abhängen. Grundsätzlich sei die Frage zu klären, wie sich der Mensch überhaupt als biologisches Wesen verstehe. Was darf am Genom verändert werden, was nicht? Eingriffe können über die Therapie hinaus "ein Werkzeug für weiter reichende 'Verbesserungen' des Menschen bieten", geben die Ethikexperten zu bedenken.
Das könnte zu sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten führen oder Eltern unter Druck setzen. In Deutschland ist die Forschung an der menschlichen Keimbahn, wie sie derzeit in den USA, aber auch in China, Südkorea und Großbritannien betrieben wird, durch das Embryonenschutzgesetz verboten.
Global verbindliche Regularien schaffen
Der Ethikrat bemängelt, dass sich die Politik trotz der in fast allen Stellungnahmen geforderten Debatte und Regulierung "national wie international zurückhält". Einen Grund sieht er im gescheiterten Versuch von 2003, eine globale Ächtung des reproduktiven Klonens durchzusetzen. Angesicht der sich überschlagenden Entwicklungen sei aber beim Genom-Editing eine Situation entstanden, "die hinsichtlich ihrer potenziellen Konsequenzen deutlich dringlicher erscheint".
Konkret schlägt er vor, Bundestag und Regierung sollten sich für eine Diskussion auf UN-Ebene und eine internationale Konferenz einsetzen, um zu global verbindlichen Regularien zu kommen.
Folgen der jungen Forschung nicht absehbar
Führende Wissenschaftler und Ethiker hatten für die Forschung an der menschlichen Keimbahn mithilfe des Genome-Editings wiederholt ein Moratorium gefordert, solange die Folgen der noch jungen Forschung nicht absehbar sind. Verabschiedet wurde eine verbindliche internationale Regelung bislang aber nicht.