KNA: Wenn Sie sich von den EU-Staats- und Regierungschefs etwas wünschen könnten – was wäre das?
Jorge Nuno Mayer (Caritas Europa-Generalsekretär): Auf den vergangenen Gipfeln haben die EU-Staats- und Regierungschefs meistens das Wort Migration mit Sicherheitsfragen in Verbindung gebracht. Das ist ein durchgehender Trend. Es wird dabei häufig der Mensch außer Acht gelassen. Migration und Terrorismus werden gerne im selben Satz genannt.
Das sickert in das Bewusstsein der Bürger und schafft Ängste. Ich wünsche mir, dass Migration nicht als eine Sicherheitsfrage, sondern als eine Frage der Menschen und Menschenrechte gesehen wird.
KNA: Immer weniger Migranten sind in den vergangenen zwei Monaten über die zentrale Mittelmeerroute in Europa angekommen. Kann man das als Erfolg bezeichnen?
Mayer: Es ist sicherlich gut, dass weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken. Die Frage ist jedoch, was sind die Konsequenzen? Wenn das bedeutet, dass dadurch mehr und mehr Menschen in Libyen ausgenutzt und zur Sklaverei und Prostitution gezwungen werden, ist das sicherlich keine gute Entwicklung.
Europa kann sich nicht einfach mit Ersterem zufriedengeben und denken: Bei uns kommen sie ja nicht mehr an. Dann können wir ja wegschauen. Die EU gibt auch Geld an Libyen, aber was damit gemacht wird, will sie nicht wissen, weil es nicht in unsere Wohnzimmer passt. Das ist unmoralisch. Denn wir verursachen diese Entwicklungen.
KNA: Müsste die EU sich stärker engagieren, um die Ursachen der Migration langfristig anzugehen?
Mayer: Wir müssen bedenken, dass die afrikanische Bevölkerung sich innerhalb weniger Jahre verdoppeln wird. Die EU ist zu sehr nach innen fokussiert. Wir müssen schauen, was an unseren Grenzen passiert und darüber hinaus. Wir müssen mehr in Entwicklungszusammenarbeit investieren. Wir sind noch weit weg von dem Ziel, dass 0,7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in die Entwicklungszusammenarbeit gehen; auch die Konzepte der Zusammenarbeit müssen überdacht werden.
Die Abschottung gegen Migration funktioniert langfristig nicht. Das haben wir in den vergangenen 20 Jahren gesehen. Menschen finden immer wieder Wege, dahin zu kommen, wo sie hinwollen. Und diese Wege werden immer riskanter und gefährlicher.
KNA: Die EU-Kommission will nun 50.000 Menschen aus dem Niger und Tschad, die besonders verletzlich sind, legal in die EU einreisen lassen. Caritas Europa fordert seit langem legale Wege in die EU. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Mayer: Es ist gut, solche Pilotprojekte zu haben. Aber sie müssen auch zu weiteren politischen Rahmenbedingungen führen. Zu oft haben wir in Europa gesehen, dass es Pilotprojekte gibt, die sehr erfolgreich sind, aber anschließend nicht in europaweite Rahmengesetzgebung mit Finanzierung umgesetzt werden. Sie bleiben damit ein Tropfen auf dem heißen Stein.
KNA: Was ist die Aufgabe von Caritas Europa in Brüssel?
Mayer: Unsere wichtigste Aufgabe ist die Anwaltschaft - wir geben den Armen, den Benachteiligten eine Stimme bei den EU-Institutionen. Wir sehen die Not Tag für Tag in unseren Projekten vor Ort, europaweit und weltweit. Davon ausgehend versuchen wir dann in Brüssel, die Rahmenbedingungen für die Menschen zu verbessern.
Wir arbeiten mit EU-Abgeordneten unterschiedlicher Parteien, der EU-Kommission und anderen Organisationen zusammen. Unsere Hauptthemen sind Migration, Sozial- und Entwicklungspolitik sowie Hilfe bei humanitären Krisen in Europa.
KNA: Können Sie ein konkretes Beispiel für Ihre Arbeit geben?
Mayer: Neben der politischen Arbeit unterstützen wir auch Initiativen aus nationalen Caritas-Verbänden. Bis Ende des Jahres soll das sogenannte MIND-Projekt starten. Daran nehmen zwölf Caritas-Organisationen aus Europa teil, darunter auch Caritas Bayern, Schweden und Italien. Auch Jugendliche sind mit der Young Caritas dabei.
Mit dem Projekt wollen wir ein besseres Verständnis dafür schaffen, warum sich Menschen auf den Weg nach Europa machen und was sie auf ihrer Reise durch die Wüste und das Mittelmeer erleben.