Die Vorwürfe gegen die Menschenrechtsverteidiger, unter ihnen der Deutsche Peter Steudtner, seien "falsch und diffamierend", erklärte Markus Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion am Dienstag in Berlin.
In den Anklageschriften werde eine reguläre Fortbildung für Menschenrechtler in ein konspiratives Geheimtreffen umgedeutet, friedliche Menschenrechtsarbeit werde als Unterstützung terroristischer Organisationen bezeichnet, kritisierte Beeko.
Proteste zu Beginn des Verfahrens
Das Verfahren in Istanbul gegen die elf Menschenrechtler hat am Morgen begonnen. Unter ihnen sind auch die Direktorin und der Vorstandsvorsitzende der türkischen Amnesty-Sektion, Idil Eser und Taner Kilic. Den Angeklagten drohen bis zu 15 Jahre Haft. Kilic muss außerdem am 26. Oktober in Izmir in einem separaten Verfahren vor Gericht erscheinen. Die türkische Justiz wirft Steudtner und den weiteren, im Juli festgenommenen Aktivisten unter anderem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und deren Unterstützung vor.
Aktivisten von Amnesty International demonstrierten zum Auftakt vor der türkischen Botschaft in Berlin für die Freilassung der Inhaftierten. Mehr als 30 Menschen bildeten in der Nähe der Botschaft mit überdimensionierten Buchstaben das Wort "Freiheit".
"Vertrauen, um zu überstehen"
Auch Steudtner selbst äußerte sich am Dienstag zum Prozessbeginn.
Er sei sehr froh, dass die Anklageschrift vorliege und auch die nächsten rechtlichen Schritte, wie der erste Anhörungstermin, so schnell festgelegt wurden, erklärte der Berliner laut seinem deutschen Unterstützerkreis. "Die Zeit hier ist aushaltbar, gerade weil die Solidarität um mich herum so stark ist, dazu zählen insbesondere auch die Andachten in nah und fern. Vertrauen ist für mich der Schlüssel, diese Situation zu überstehen. Dieses Vertrauen habe ich."
"Angriff auf die Menschenrechte"
Amnesty-Generalsekretär Beeko kritisierte, mit Eser und Kilic stünden zwei führende Vertreter einer internationalen unabhängigen Menschenrechtsorganisation vor Gericht. "Die Verfahren sind daher nicht nur ein Angriff auf die Menschenrechte in der Türkei, sondern auch ein Angriff auf den internationalen Menschenrechtsschutz." Beeko kündigte an, am Mittwoch und Donnerstag selbst in Istanbul den Prozess beobachten zu wollen. Außerdem plant Amnesty am Mittwochmorgen in Berlin eine Protestaktion vor der türkischen Botschaft.
Steudtner sitzt seit mehr als 100 Tagen im Gefängnis von Silivri westlich von Istanbul. In Deutschland löste seine Inhaftierung eine Protest- und Solidarisierungswelle aus, ähnlich wie im Fall der ebenfalls in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu.
Bundesregierung fordert Freilassung
Die Menschenrechtbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), fordert die Türkei auf, Steudtner freizulassen. "Das Entscheidende ist, dass das Verfahren rechtsstaatlich, zügig und konkret ist und eben kein politisches Verfahren wird, sondern ein nach juristischen Maßstäben sauberes Verfahren", sagte Kofler dem SWR am Mittwoch. Wenn es nach den Vorstellungen der deutschen Seite gehe, könne am Ende nur ein Freispruch stehen, so die Politikerin.
Kofler betonte, die Menschenrechtslage in der Türkei sei gegenwärtig äußerst schlecht. Das betreffe nicht nur willkürliche Verhaftungen von Staatsbürgern anderer Nationen, sondern etwa auch Entlassungen im eigenen Land. Allein in den vergangenen zwei Jahren seien zigtausende Beamte, Lehrer, Verwaltungsangestellte und Juristen entlassen worden. Als "beängstigend" bezeichnete Kofler die Lage der Meinungsfreiheit und die Verhaftung von Journalisten.
"Keine rechtsstaatlichen Standards"
Kritik am Rechtssystem der Türkei übte auch der Deutsche Anwaltvereins (DAV). "Ich würde überhaupt nicht zögern zu sagen, dass wir derzeit in der Türkei keine rechtsstaatlichen Standards haben", sagte DAV-Präsident Ulrich Schellenberg. Es herrsche ein System der Willkür: "Wir vermissen das, was wir in der Bundesrepublik gewohnt sind: eine unabhängige Justiz." Zwar seien in der Türkei keine Gesetze geändert worden, aber Präsident Recep Tayyip Erdogan sei es gelungen, "mit dem Eingriff in die Justiz und in die Anwaltschaft eine unabhängige Justiz ad absurdum zu führen".
Zu den Aussichten Steudtners vor Gericht äußerte sich Schellenberg skeptisch. Er hoffe, dass Steudtners Anwalt "sich für seinen Mandanten einsetzt, weil er dieses Mandat übernommen hat". Allerdings übernähmen inzwischen viele Anwälte bestimmte Mandate gar nicht mehr, aus Angst, selbst beschuldigt zu werden. Außerdem drücke er Steudtner die Daumen, dass der Richter "die Kraft und den Mut hat, eine Entscheidung zu treffen, die sich vielleicht auch an den Gesetzen der Türkei orientiert".