Die frühen Christen begingen noch das Totenmahl; eine Tradition, von der heute nur noch der Kaffee mit belegten Brötchen im Gasthaus neben dem Friedhof übrig geblieben ist. Die Psychologie dahinter ist, dass die Angehörigen nicht traurig auseinanderströmen, sondern dass sich im Erleben von Gemeinschaft und im Austausch von Erinnerungen die gedrückte Stimmung über den Verlust lösen kann.
In der Spätantike artete die Feier am Grab des Verstorbenen offenbar nicht selten in Gelage aus; jedenfalls mahnten christliche Schriftsteller der Zeit, man hätte das Geld, das dort buchstäblich verbraten wurde, doch besser dem armen Mitbruder zukommen lassen. Das mittelalterliche Mönchtum, sei es reich oder selbst arm, hat den Verweis auf die Armenfürsorge ernst genommen. Aus dem Gedanken, alle armen Seelen mögen dereinst der Heiligen teilhaftig werden, entstand in Cluny das Fest Allerseelen.
Seelenheil befördern
Der Klosterkomplex von Cluny war um das Jahr 1000 überaus reich - paradoxerweise. Gegründet von glühenden Asketen, die das radikale Armutsideal des benediktinischen Mönchtums erneuern wollten, zogen sie mit ihrer Strahlkraft in ganz Europa Tausende junger Männer an, die ein anderes Leben suchten - und dann Tausende frommer Stiftungen, mit denen die Reichen der Zeit ihr ewiges Seelenheil zu befördern wünschten. So entstand ein mächtiges, hierarchisch organisiertes Klosterimperium, das sich über ganz Europa erstreckte.
Bei allem Wohlstand konnte mangelnde Frömmigkeit dem Orden niemand vorwerfen: Das Opus Dei, der Gottesdienst, stand im Mittelpunkt des monastischen Lebens von Cluny; vielleicht allzu stark: "ora" kam bei den Cluniazensern weit vor "labora". Fast rund um die Uhr hatten die Mönche liturgische Zeiten einzuhalten, im Winter allein täglich bis zu 215 Psalmen zu beten, für unterschiedlichste Personen und Zwecke.
In fließendem Übergang
Von jeglicher Arbeit mit den Händen waren sie befreit. Das und die immer größere Prachtentfaltung in der Liturgie bot ein Jahrhundert später die Angriffsfläche für die "Konkurrenz" neuer, aufstrebender Orden, etwa der Zisterzienser, die die Arbeit wieder dem Gebet gleichstellten.
Um das Jahr 1000 - eine Quelle spricht vom Jahr 998 - führte der später heiliggesprochene Abt Odilo von Cluny (994-1049) Allerseelen (2. November) per Dekret als Gedenktag in allen von Cluny abhängigen Klöstern ein. Das Fest stand in fließendem Übergang von Allerheiligen tags zuvor (1. November). An beiden Tagen wurden alle des Weges kommenden Armen mit Brot und Wein gespeist. Die Glocken läuteten wie an Hochfesten; die Totenvigil wurde mit neun Lesungen begangen und bei allen Gottesdiensten des Tages zusätzliche Psalmen gesungen.
Vollendung in Gott finden
Gebete, Fürbitten und Messfeier an Allerseelen sollen dazu beitragen, dass alle Toten Vollendung in Gott finden. Die Nähe zu Allerheiligen rückt die einzelne arme Seele des Verstorbenen auch spirituell an die Heiligen heran - eine Nähe, die seit jeher gesucht wird, zum Beispiel durch die Wahl der Begräbnisstätte "apud sanctos". Deren Fürsprache könnte schließlich der Schlüssel zur Erlangung des ewigen Heiles sein.
Abt Odilo setzte bei der "Erfindung" des Festes durchaus auf vorhandene Elemente der Volksfrömmigkeit auf, etwa der österlichen Lichtsymbolik zur Vertreibung des Karfreitag respektive des Todes durch das Leben. Tatsächlich waren solche Familienbesuche bei den Verstorbenen im Frühmittelalter vor allem zu Ostern und zu Pfingsten angesiedelt.
Offenbar traf der Gedanke des Festes auf ein allgemeines Bedürfnis - denn bald schon wurde der Allerseelentag von Cluny auch außerhalb der benediktinischen Klöster gefeiert, bis zum 12. Jahrhundert bereits in Pfarreien von Lüttich bis Mailand. Für Rom ist er seit 1311 bezeugt.