domradio.de: 152 Millionen Kinder weltweit müssen Geld verdienen. Davon arbeiten nach Schätzungen der Hilfsorganisationen 73 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen, zehn Millionen in sklavenähnlichen Verhältnissen. Mit der Studie "It's Time to Talk", die die Kinderrechtsorganisation terre des hommes und die Kindernothilfe am Mittwoch bei der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Argentinien vorstellen werden und über die die "Süddeutsche Zeitung" vorab berichtet, sind nun erstmals über 1.800 Kinder zwischen fünf und 18 Jahren weltweit aus 36 Ländern selbst befragt worden. Wie unterscheiden sich die Ergebnisse von anderen Studien, wo nicht explizit Kinder befragt wurden?
Christian Herrmanny (Stellvertretender Pressesprecher bei der Kindernothilfe): Zunächst einmal ist es etwas ganz besonderes, wenn man mit den Kindern zusammen die Fragen und die möglichen Antworten erarbeitet. Das Verfahren muss man sich so vorstellen, dass die Kinder wirklich lange Zeit hatten, sich mit ihrer eigenen Arbeit und ihrem Leben auseinanderzusetzen und sich auf spielerische Art und Weise in einem ganz transparenten Verfahren mit ihrer Lebenswirklichkeit beschäftigt haben. Das Ganze ist mit kindgerechten und kinderfreundlichen Methoden geschehen. Dabei haben sie für sich herausgefunden, was sie eigentlich bei der Arbeit belastet oder was ihnen auch Freude bereitet und wo die Arbeit aber auch schmerzen kann.
Sie haben ein sogenanntes "body-mapping" betrieben, also einen Körper aufgezeichnet und dort beispielsweise eingetragen, dass die Arme weh tun, weil sie den Tag über schwere Lasten getragen haben, aber sie auch dadurch stark werden, weil sie etwas schaffen. Oder das Herz tut manchmal vor Anstrengung weh, aber es wächst auch vor Freude, wenn man den Eltern den erwirtschafteten Geldbetrag abgeben kann, weil dieser zum Familieneinkommen beiträgt.
domradio.de: Was ist denn das zentrale Ergebnis dieser Umfrage?
Herrmanny: Einiges haben wir tatsächlich so schon geahnt und auch schon einmal gehört. Zum Beispiel, dass Kinder mit dem Geld, das sie erwerben, den Familienmitgliedern helfen möchten. Sie möchten etwas zum Familieneinkommen beitragen. Dies kommt natürlich oft aus großer Not heraus. Es herrschen teilweise elende Familienverhältnisse und die Kinder tragen etwas zum Einkommen der Familie bei, um das Überleben zu sichern. Das ahnten wir schon.
Aber es gab auch durchaus ganz neue Aspekte. Beispielsweise dass Kinder sagen, sie würden schon etwas für das spätere Leben lernen. Sie erwerben ganz neue Kompetenzen durch die Arbeit, die sie machen. Oder sie können schon Schlüsse aus ihrer Tätigkeit für ihre spätere Ausbildung ziehen, wenn sie sich anstrengen, Geld erwerben, um auch zur Schule gehen zu können, Schulbücher kaufen zu können oder sich die Schuluniform leisten zu können. Wenn sie es dann tatsächlich neben der Arbeit und dem Lernen und Schulbesuch schaffen, die Schule abzuschließen und eine Ausbildung zu machen, dann haben sie durch die eigene Arbeit schon einen gewissen Grundstein gelegt. Das erfüllt die Kinder mit ungeheurem Stolz, genauso wie die Tatsache, dass sie den Eltern das Überleben mit sichern.
domradio.de: In der Studie heißt es: "Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, sehen Kinder und Jugendliche sogar positive Aspekte in der Kinderarbeit." Müssen wir unseren Blick auf Kinderarbeit grundsätzlich überdenken und dürfen das nicht mehr verurteilen und über einen Kamm scheren?
Herrmanny: In mancher Hinsicht mit Sicherheit. Wir haben gerade in Lateinamerika, aber auch in manchen afrikanischen Staaten eine Bewegung von arbeitenden Kindern, die sagen: Wir haben ein Recht darauf zu arbeiten und wir möchten das auch tun. Wir möchten uns mit unserer Kraft und Kompetenz schon in jungen Jahren einbringen. Und wir sind auch in der Lage dazu.
Aber dann gibt es auch die Fälle, wo Kinder ganz massiv unter ihren Arbeitsumständen leiden. Wo sie richtig ausgebeutet und sklavenähnlich geknechtet werden, wo sie tageweise in den Fabriken, Steinbrüchen oder Kohle- und Goldminen der Welt arbeiten.
Das sind natürlich auch die Umstände, wo Kinder uns ganz glasklar signalisieren: "Da werden wir ausgebeutet, schaden unserer Gesundheit, kommen nicht mehr an die frische Luft. Wir gehen nicht mehr in die Schule, haben keine Zeit mehr zu lernen - geschweige denn Freizeit. Und dazu werden wir auch noch schlecht bezahlt." Das geht natürlich nicht.
domradio.de: Die Kampagne wird am Mittwoch bei der Weltkinderarbeitskonferenz zur Beseitigung von Kinderarbeit in Argentinien offiziell vorgestellt. Wird es eine gemeinsame politische Forderung geben?
Herrmanny: Wir ermutigen die Kinder, für ihre Dinge einzutreten und zu kämpfen. Aber natürlich wären wir schlechte Hilfswerke, wenn wir nicht auch Anwalt der Kinder wären.
Wir fordern ganz klar, dass es diese ausbeuterische Tätigkeit nicht geben darf - ganz abgesehen von den strafrechtlich relevanten Arbeiten, zum Beispiel, wenn Kinder zum Soldatendienst rekrutiert oder in die Prostitution gezwungen werden. Da werden Grenzen überschritten.
Und dagegen gehen wir auch an. Außerdem erarbeiten wir Strategien und Pläne, um Kinder und Jugendliche bei der Suche nach einer akzeptablen und zeitlich begrenzten Arbeit zu unterstützen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.