Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße hat anlässlich des Volkstrauertags Kritik an der Europäischen Union geübt. Die Staatengemeinschaft präsentiere sich gegenwärtig als eine "zerrüttete Familie", die ihren Verwandten südlich des Mittelmeers und im Nahen Osten oft genug die kalte Schulter zeige, sagte Heße laut Redemanuskript am Sonntag bei einer zentralen Gedenkstunde im Hamburger Michel. Auch der zahlreichen Flüchtlinge, die ihr Leben verloren haben, werde am Volkstrauertag gedacht, betonte der Erzbischof.
Heße erinnerte auch an die "Last der Geschichte", die etwa durch die beiden Weltkriege auf Deutschland liege. Bücken und Verneigen bei Kranzniederlegungen seien Zeichen der Demut. Wer trauere und gedenke, der bleibe nicht gleichgültig. "Ich bin darum überzeugt: Der Trauernde geht einen ersten Schritt zum Frieden."
Zu der zentralen Gedenkstunde waren mehrere Hundert Menschen in der Hamburger Hauptkirche zusammengekommen. Unter den Teilnehmern war auch Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne).
Keine zwei Welten
Der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas hat unterdessen die Verdienste der Europäischen Union für den Frieden in Europa gewürdigt. Europa werde von der ganzen Welt gebraucht, betonte Ratas am Sonntag bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag im Bundestag. "Unsere gemeinsame Geschichte muss alle davon überzeugen, dass die Europäische Union hilft, Feindschaft, Gier und Aggressivität entgegenzutreten", sagte der estnische Regierungschef und EU-Ratsvorsitzende.
Europa erkläre, dass es eben nicht zwei Welten gebe, in der für verschiedene Menschengruppen verschiedene Regeln gälten, betonte Ratas: "Nein, es gibt nur eine Welt und einheitliche Regeln." Ratas würdigte bei der Feierstunde im Bundestag auch die Bedeutung Deutschlands für die europäische Einigung. Die Bundesrepublik habe dabei eine Vorreiterrolle übernommen, sagte er. Estland hat noch bis Ende des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Um die Stabilität des Friedens kümmern
Der estnische Ministerpräsident erinnerte auch an den im Juni verstorbenen Altkanzler Helmut Kohl (CDU), dem der Frieden in Europa besonders am Herzen gelegen habe. "Es ist nun unserer aller Verpflichtung die Früchte seiner Arbeit und seiner Vision in Frieden zu ernten", sagte er. "Wir alle müssen uns um die Stabilität des Friedens kümmern", mahnte Ratas, der vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zu der Feierstunde eingeladen worden war.
Der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Schneiderhan, hob ebenfalls die Bedeutung der EU für den Frieden auf dem Kontinent hervor. "Nationalistische, rassistische, hetzerische Einstellungen dürfen nicht an Boden gewinnen", sagte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr. Kreuze auf Soldatenfriedhöfen sprächen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache.
Kränze für die Opfer
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte im Totengedenken an alle Opfer von Krieg und Gewalt. An der Gedenkfeier nahmen auch Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sowie verschiedene Botschafter, Abgeordnete und Kirchenvertreter teil. Gymnasiasten aus Kassel präsentierten gemeinsam mit Schülern aus der russischen Stadt Nowy Urengoi Lebensgeschichten deutscher und russischer Kriegsgefallener.
Der Bundespräsident hatte zuvor zusammen mit Vertretern von Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht an der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik, der Neuen Wache in Berlin, Kränze für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft niedergelegt.
Ursprünge bis 1922
Am Volkstrauertag gedenkt Deutschland der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft. Der Volkstrauertag war auf Anregung des Volksbundes 1952 wieder eingeführt worden. Seine Ursprünge gehen bis in das Jahr 1922 zurück. Der Gedenktag wird jedes Jahr zwei Wochen vor dem ersten Advent begangen. Der Volksbund kümmert sich im Auftrag der Bundesregierung um die Gräber von etwa 2,7 Millionen Kriegstoten auf 832 Soldatenfriedhöfen in 45 Staaten.