Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen hat Kardinal Reinhard Marx weitere Anstrengungen für eine rasche Regierungsbildung gefordert. "Ich hoffe und bete, dass die Politik in Berlin sich ihrer Verantwortung bewusst ist und alles dafür tut, möglichst bald eine am Gemeinwohl orientierte Regierung auf den Weg zu bringen", sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz am Montag auf Anfrage dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Dazu müssen alle Anstrengungen unternommen werden", unterstrich Marx.
Appell an die SPD
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, hat unterdessen Union, SPD, FDP und Grünen aufgerufen, ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden und "weiterhin sehr ernsthaft" nach Wegen zu einer stabilen Regierungsmehrheit zu suchen. Neuwahlen drohten der AfD zu nutzen und die Mitte weiter zu schwächen.
"Sie tragen hier eine gemeinsame staatspolitische Verantwortung", sagte Sternberg, der selbst langjähriger CDU-Landtagsabgeordneter in NRW war. "Der hohe Stimmanteil der rechtspopulistischen AfD hat eine Unzufriedenheit mit der etablierten politischen Kultur zum Ausdruck gebracht. Die mangelnde Fähigkeit, eine Regierung zu bilden, und Neuwahlen würden diese Unzufriedenheit bestärken und die Mitte weiter schwächen", so Sternberg. Vonnöten seien jetzt persönlicher Mut, der Wille zu Stabilität und Verlässlichkeit sowie Vertrauen und Respekt unter allen möglichen Koalitionspartnern, insbesondere den Liberalen.
Der ZdK-Präsident appellierte ausdrücklich auch an die SPD, an das langfristige Gemeinwohl zu denken. "Niemand wird in einer Koalition alle seine politischen Ziele umsetzen können - das geht, wie man an den so unterschiedlichen Regierungen in Frankreich und Polen beobachten kann, übrigens auch nicht mit einer absoluten Mehrheit im Rücken. Und manchmal muss man auch bereit sein, gegen den Trend zu regieren."
Sternberg verwies auf die Koalitionsbildungen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. "Hier haben die jeweiligen Koalitionspartner den Mut gehabt, sich aufeinander einzulassen und sich dafür im eigenen Lager auch Kritik zuzuziehen. Dafür hat es im Bund nicht - oder noch nicht - gereicht. Warum sollte das eigentlich durch Neuwahlen anders werden?"
FDP steigt aus
In der Nacht zum Montag hatte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner die Sondierungsgespräche mit CDU, CSU und den Grünen für gescheitert erklärt. "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", sagte Lindner in Berlin. Es habe sich gezeigt, "dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten".
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bedauerte den Abbruch der Sondierungsgespräche. "Es ist ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland", sagte Merkel. Sie fügte hinzu: "Ich als Bundeskanzlerin, als geschäftsführende Bundeskanzlerin werde alles tun, dass dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird."
Caritasverband enttäuscht von Scheitern
Auch der Deutsche Caritasverband bedauert das Scheitern der Sondierungsgespräche von Union, FDP und Grünen. "Es ist enttäuschend, dass es nach den intensiven Wochen der Sondierungsgespräche nicht gelungen ist, diese in Koalitionsverhandlungen münden zu lassen", sagte der Präsident des Deutschen Caritasverbands, Peter Neher, am Montag auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin.
Es sei klar gewesen, dass angesichts der großen programmatischen Unterschiede der Parteien eine Lösung schwierig gewesen sei, fügte Neher hinzu, und nannte als Beispiel das "heftige Ringen der Akteure in der Frage des Familiennachzugs". Er hoffe nun, so Neher, "dass sich alle Parteien ihrer Verantwortung bewusst sind und einen konstruktiven Beitrag leisten, dass trotzdem eine handlungsfähige Regierung gebildet werden kann".
Sozialethiker kritisieren Politiker
Sozialethiker Peter Dabrock bezeichnet das Scheitern der Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition als "besorgniserregend" bezeichnet. "Leider ist es der politischen Klasse, die einen Verantwortungsauftrag gegenüber dem Land hat, nicht gelungen, deutlich zu machen, dass es am Ende um das Gemeinwohl gehen muss", sagte Dabrock. Er warnte die Parteien nun vor einer Blockadehaltung. "Alle, wirklich alle" müssten nun miteinander reden.
Der Sozialethiker Joachim Wiemeyer sieht in den gescheiterten Koalitionsgesprächen gar einen "Bruch mit der politischen Kultur Deutschlands". Die Unfähigkeit zur Regierungsbildung sei Ausdruck mangelnder Gemeinwohlverantwortung der Parteien, sagte der Bochumer Theologe am Montag der Katholischen Nachrichten-Agentur. Vor allem das "taktische Verhalten" der FDP zeuge von wenig Verantwortungsbereitschaft. Mit dem verfügbaren Budget hätten Anliegen aller Verhandlungspartner berücksichtigt und ein Kompromiss gefunden werden können.
Neuwahlen beurteilt Wiemeyer kritisch. Wenn dann wieder sechs Parteien ins Parlament einzögen, würde sich eine Koalitionsbildung ähnlich schwierig gestalten wie bisher. Denn weder die FDP noch die SPD könnten nach einem neuen Votum glaubhaft umschwenken und ihre Positionen ändern.
Eine neue Große Koalition hält Wiemeyer für unwahrscheinlich. Dies wäre auch nicht wünschenswert. "Es braucht eine starke SPD als Alternative", betonte der Sozialethiker. Das "desaströse SPD-Ergebnis" bei der Bundestagswahl im September habe gezeigt, dass eine Große Koalition "auf Dauer kein vernünftiger Weg" sei. Zudem könnten die Sozialdemokraten in der Opposition für Protestwähler wieder attraktiv sein.
Eine Minderheitsregierung hat nach den Worten Wiemeyers langfristig keinen Bestand. Wichtig sei, Deutschlands Handlungsfähigkeit zu erhalten und dafür eine stabile Regierung zu bilden. Daher wäre es gut gewesen, wenn die Verhandlungspartner sich hätten einigen können.
Steinmeier ermahnt Parteien
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche alle Parteien zur Gesprächsbereitschaft aufgerufen, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen. "Das ist der Moment, in dem alle Beteiligten noch einmal innehalten und ihre Haltung überdenken sollten", sagte Steinmeier am Montag in Berlin. Die Parteien hätten sich mit der Wahl um die Verantwortung für Deutschland beworben und dürften trotz schwieriger Verhandlungen um eine Regierungsbildung diese Verantwortung nicht einfach an die Wähler zurückgeben. "Alle Parteien dienen unserem Land", bekräftigte Steinmeier.
Der Bundespräsident kündigte an, in den kommenden Tagen mit den Spitzen der Parteien sowie der Spitzen der Verfassungsorgane Gespräche zu führen. Zum Abschluss verwies Steinmeier auf die Nachbarn Deutschlands. Diese hätten sicher wenig Verständnis dafür, wenn in Deutschland die politischen Kräfte ihrer Verantwortung nicht nachkämen.