DOMRADIO.DE: Das Attentat war vor einem Jahr direkt vor Ihrer Kirchentür, aber Sie waren zum Tatzeitpunkt woanders. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie von dem Attentat erfahren haben?
Pfarrer Martin Germer (Pfarrer der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz): Meine erste Assziation, als ich den Anruf unserer Pressesprecherin bekam und sie von einem LKW sprach, war Nizza. Dazu kamen das entsprechende Erschrecken und die Frage: "Was wird da wohl jetzt auf dem Platz neben meiner Kirche sein?" Als ich dann raus kam auf den Breitscheidplatz, war die Polizei schon dabei alles abzusprerren, sodass ich, sicher auch zu meinem persönlichen Glück, nicht mehr direkt an den Ort kam, wo die Menschen tot oder schwer verletzt lagen und versorgt wurden.
Ich habe dann im Außenbereich Menschen getroffen, die ich kannte – zum Beispiel Schausteller vom Weihnachtsmarkt, für die ich seit Jahren zuständig bin. Von denen habe ich dann ganz unmittelbarer erfahren, was sie schreckliches erleben mussten.
DOMRADIO.DE: Sie sind kein direkter Augenzeuge gewesen – hat Sie das freier gemacht in Ihrer Arbeit als Pfarrer?
Pfarrer Germer: Genau, so konnte ich eben erstmal einfach da sein und zuhören. Und das ist in den ersten Momenten für solche Menschen sehr wichtig. Jemanden zu haben, mit dem Sie in Ruhe reden können. Und dann ging es an jenem Abend auch schon darum, viel in die Wege zu leiten, damit wir am nächsten Tag als Kirche auch handlungsfähig sind.
DOMRADIO.DE: Sie konnten sozusagen Erste Hilfe für die Seele leisten. Kann man denn da schon so etwas wie Trost spenden?
Pfarrer Germer: Ich kann nicht sagen, dass ich Trost spenden wollte, aber einfach als Mensch da sein, zuhören und den Menschen Raum geben, Ihr Entsetzen loszuwerden. Das ist allerdings ein langer Weg. Ich habe teilweise zu den Schaustellern sehr enge und persönliche Kontakte und auch nach einem Jahr haben die noch sehr hart zu knabbern. Genauso wie die Verletzten und die Angehörigen der Toten.
DOMRADIO.DE: Dann gab es ja gestern das erste Treffen der Kanzlerin mit Opfern und Betroffenen des Anschlags. Im Voraus gab es ja einige Vorwürfe, zum Beispiel habe es zu wenig Unterstützung für Überlebende und Angehörige gegeben. Auch das Treffen mit der Kanzlerin sei zu spät erfolgt. Können Sie den Unmut nachvollziehen?
Pfarrer Germer: Ja, ich kann den Unmut nachvollziehen. Ich weiß, dass viele von den behördlichen Abläufen auf eine solche Lage noch nicht ausgerichtet waren. Ganz zu Anfang erhielten Angehörige erst nach Tagen die bestätigte Todesnachricht, weil ein bestimmtes Verfahren in Kraft gesetzt worden war, das Vorgaben machte, die anderswo sinnvoll sind, aber hier fatal waren.
Oder auch, dass der Opferbeauftragte des Landes Berlin wochenlang viel zu wenig Informationen hatte und nicht einmal die Kontakte zu allen Angehörigen und Betroffenen haben konnte. Das sind alles Dinge, die besser werden müssen. Da hat sehr viel im Argen gelegen. Ich habe aber auch wahrgenommen, dass die Bundeskanzlerin am Tag nach dem Anschlag mehrfach bei uns in der Kirche war.
Sie, die gesamte Staatsspitze und der Bundespräsident, waren alle bei dem Fernsehgottesdienst am Tag danach und haben dort ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Und ich bin sicher, dass diese Anteilnahme auch weiter vorhanden ist.
DOMRADIO.DE: Gehen Sie angstfrei auf den Weihnachtsmark?
Pfarrer Germer: Ja, ich bin da tatsächlich nicht besonders besorgt. Ich weiß, änliche Dinge können immer wieder passieren an verschiedenen öffentlichen Orten. Aber ich weiß auch, dass ich über die Straße gehe, obwohl ein Moment der Unachtsamkeit eines Autofahrers oder von mir selbstebenfalls lebensgefährlich sein könnte. Also, es gibt einfach gewisse Risiken im Leben, mit denen man leben muss . Wir sollten immer mitbedenken, dass wir immer noch in einem der sichersten Länder der Welt leben.
DOMRADIO.DE: Heute Abend wird das Denkmal auf dem Breitscheidplatz eingeweiht – beschreiben Sie es mal.
Pfarrer Germer: Sie müssen sich das so vorstellen: Auf der breiten Gehwegfläche, die neben der Gedächtniskirche ist, wird sich ein goldfarbener Riss ziehen, der in den Bodenbelag eingelassen ist. Die Namen der zwöf Menschen, die an diesem Abend ihr Lerben verloren haben, sind in diesen Riss eingelassen, jeweils auch immer mit ihren Herkunftsländern – sechs verschiedene Länder – so international wie die Besucher unserer Städte. Und was mir noch sehr wichtig ist: Der Satz, der dort auch zu finden ist. "Für ein friedliches Miteinander aller Menschen". Dass dieser Satz, den Menschen die da vorrübergehen und dort verweilen, auch immer mit ins Bewusstsein gebracht wird, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Das liegt mir sehr am Herzen.
Das Interview führte Tobias Fricke.