DOMRADIO.DE: In den USA wird das Thema Abtreibung in Politik und Gesellschaft deutlich heftiger diskutiert als bei uns. Worin liegt denn der Unterschied zu Deutschland?
Prof. Dr. Godehard Brüntrup (Jesuitenpater und USA-Kenner): Der Unterschied liegt darin, dass sich die gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland - die eine wollte eine weitgehende Liberalisierung der Abtreibung, die andere, zu der auch die Katholiken gehören, wollte Abtreibung extrem begrenzen - zu einem Kompromiss durchgerungen haben. Abtreibung ist in Deutschland möglich, aber doch relativ stark eingeschränkt und staatlich reglementiert.
In den USA ist dieser gesellschaftliche Konflikt so ausgegangen, dass sich die Abtreibungsbefürworter radikal durchgesetzt haben und Abtreibung praktisch bis zum neunten Monat relativ leicht möglich ist. Die andere Gruppierung - also diejenigen, die gegen Abtreibung sind - haben auf der ganzen Linie verloren. Und damit schwelt der Konflikt ständig weiter.
DOMRADIO.DE: Das Ganze beruht auf einem Gerichtsurteil von 1973. Seit 45 Jahren ist Abtreibung in den USA also legal. Deshalb hat sich damals auch dieser Marsch für das Leben etabliert. Wie denkt denn die Gesellschaft in den USA über diese Veranstaltung? Es nahmen ja tatsächlich hunderttausende Menschen teil.
Brüntrup: Der Marsch ist eben Ausdruck dieses schwelenden gesellschaftlichen Konflikts. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung - nach einigen Untersuchungen sogar die Mehrheit - ist der Meinung, dass in den USA die Abtreibungsregelung viel zu liberal ist. Und der Unwille darüber äußert sich Jahr für Jahr in diesem Marsch. Dahinter stehen natürlich auch Kräfte. Da stehen die Kirchen dahinter, vor allen Dingen die evangelikalen Kirchen aus dem Bible Belt. Aber auch die katholische Kirche hat diesen Marsch immer unterstützt.
DOMRADIO.DE: Mit Donald Trump wird zum ersten Mal ein US-Präsident bei diesem Marsch reden - live per Video zugeschaltet. Was steckt denn dahinter, dass sich erstmals ein Präsident öffentlich bei dieser Veranstaltung äußert?
Brüntrup: Trump hat im letzten Jahr seinen Vizepräsidenten hingeschickt, jetzt äußert sich der Präsident selbst. Trump war früher selbst für die Legalisierung der Abtreibung, hat aber eine politische Wende vollzogen. Diese Wende ist sehr wichtig für ihn, da er damit eine große Gruppe seiner Stammwähler an sich binden kann.
Viele Menschen - gerade christliche Wähler - haben ihn gewählt, obwohl sie ihn charakterlich nicht gerade für einen guten Menschen halten. Aber sie möchten, dass er dieses Thema voranbringt. Und das hat er ja mit einigen Gesetzesinitiativen getan. Das ist für ihn ein Thema, das die Stammwählerschaft bindet.
DOMRADIO.DE: Besteht denn Ihrer Einschätzung nach die Möglichkeit, dass die Gesetze auf lange Sicht verschärft werden?
Brüntrup: Präsident Trump hat schrittweise Änderungen vorgenommen. Zum Beispiel bekommen Institutionen, die Abtreibung als ein reines Mittel der Familienplanung propagieren, keine Mittel mehr von der Regierung. Aber da das eine Frage des Obersten Bundesgerichtshofes - bei uns eine Frage des Bundesverfassungsgerichts - wäre, kann er als Politiker und als Präsident nur grundsätzlich etwas ändern, indem er neue Richter ernennt.
Das hat er getan wie kein anderer Präsident vor ihm: Er hat systematisch begonnen, auf allen Ebenen neue Richter zu ernennen. Auf der Ebene des Bundesgerichtshofs dauert das länger. Da hat er einen ernennen können. Aber auch da ist es kurz davor, dass die Mehrheitsverhältnisse kippen. Wenn ihm das gelänge - da müsste allerdings noch ein Richter ausscheiden - könnte sich tatsächlich an der gesetzlichen Situation etwas ändern. Darauf hoffen seine Anhänger.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.