Christen kehren ins zerstörte Mossul zurück

Das verschwundene Paradies

Die Terrormiliz Islamischer Staat hatte die irakische Stadt Mossul 2014 unter ihre Kontrolle gebracht. Über hunderttausend Christen flohen. Seit der Befreiung der Stadt im Juli 2017 hoffen viele auf ihre Rückkehr ins frühere "Paradies".

Autor/in:
Jaco Klamer und Tobias Lehner
Flüchtlingsfamilie in der beschädigten Heilig-Geist-Kirche in Mossul / © Jaco Klamer (KiN)
Flüchtlingsfamilie in der beschädigten Heilig-Geist-Kirche in Mossul / © Jaco Klamer ( KiN )

Erzählt Nadia Younis Butti von ihrem Elternhaus in Mossul, spricht sie zuerst von den Zitronen-, Orangen- und Feigenbäumen. Sie wuchsen üppig im riesigen Garten. Ihre Eltern, syrisch-orthodoxe Christen, hatten Haus und Grund liebevoll gepflegt. Nadias Lieblingsplatz war der Schaukelstuhl im Garten – so konnte sie sich an der blühenden Pracht erfreuen.

Doch am 17. Juli 2014 begann die Vertreibung aus dem Paradies: Die Truppen des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) hatten Mossul besetzt. Nadia erzählt: "Wehen Herzens bin ich weggegangen" – nach Erbil, wie über hunderttausend andere Christen aus Mossul und der angrenzenden Ninive-Ebene.

Seit Sommer 2017 ist ihre Heimatstadt aus den Fängen der Islamisten befreit. Nadia ist zurückgekehrt – trotz der Gefahr, die noch überall präsent ist. "Ich habe gerade mit einem Polizisten gesprochen. Ein Kollege von ihm wurde diese Woche erschossen. Solche Morde passieren hier immer noch ständig", sagt Nadia und seufzt. Der Grund: Viele Bewohner Mossuls hätten drei Jahre lange mit dem IS kollaboriert, vor allem die sunnitischen Muslime – denn auch der IS setzt sich aus Sunniten zusammen.

"Die Befreiung Mossuls geschah durch die irakische Armee, die wiederum von zahlreichen schiitischen Muslimen aus dem Iran unterstützt wird." Die Rivalität der beiden islamischen Glaubensrichtungen führe immer wieder zu Gewalt. "In Mossul begegnen die Menschen einander mit großem Misstrauen. Sie sehen sich nicht als Verbündete." Und zwischen allen Stühlen: die Christen.

Kloster ohne Gebete

"Der Islamische Staat wird immer im Irak bleiben." Diese Worte, von unbekannter Hand auf eine Mauer gesprüht, stechen Nadia sofort ins Auge, als sie zum ersten Mal nach der Rückkehr die Klosteranlage St. Georg (Mar Gurguis) betrachtet – oder was davon noch übrig ist. Es wurde von den islamistischen Truppen schwer zerstört. Einst war die Klosteranlage aus dem 17. Jahrhundert ein geistliches Zentrum für die Christen der Stadt. "Immer im Sommer und im Herbst fanden hier große Treffen statt", erinnert sich Nadia.

"Wir durften im Kloster übernachten und es gab neben den Gottesdiensten auch viele weitere Angebote. Ich denke voller Freude an diese sorglose Zeit zurück." Auch Nadias Bekannter Yohanna Youssef Towaya, der sie heute begleitet, teilt ihre positiven Erinnerungen: "Einst konnten sich die Christen frei in diesem Kloster versammeln. Dieser Ort war Teil unserer Identität". Yohanna arbeitete als Professor an der Universität von Mossul, später in Karakosch.

Schweigend sehen er und Nadia sich die zusammengeschossene Kuppel von St. Georg an. Sie gehen durch die Gänge des Klosters, welche die einstige Pracht nur noch erahnen lassen. Marmorplatten sind von Wänden, Boden und Bögen gerissen. Selbst vor dem Altar der Kirche machten die IS-Kämpfer nicht Halt: Er wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch Gräber und Grabsteine wurden verwüstet. In einer Nische steht eine Heiligenstatue: Sie ist enthauptet. Auf einer anderen Wand des Gotteshauses ist ein Pfeil aufgemalt. Er zeigt Richtung Mekka, diente so den Islamisten zur Orientierung für ihre Gebete.

Nahe beim Eingang finden Nadia und Yohanna verwitterte Gebetbücher. Yohanna schlägt auf und rezitiert ein bekanntes Morgengebet der chaldäisch-katholischen Kirche: "Unser Herr und Gott, wir durch um Erlösung der Unterdrückten, Befreiung der Gefangenen, Genesung der Verwundeten … Rückkehr der weit Entfernten, … Hilfe für die Bedürftigen. Handle in Deiner Güte und Barmherzigkeit jetzt und allezeit und in Ewigkeit." "Amen", flüstert Nadia in dem leeren Kloster, in dem drei Jahre lang kein Gebet mehr zu hören war.

Ob in der Kirche jemals wieder die Liturgie der Mönche gefeiert wird, ist unsicher: "Die Mönche haben Zuflucht in Alkosch in der Ninive-Ebene gefunden. Dort hat der Überlieferung nach der alttestamentliche Prophet Nahum seine Weissagungen zur Zerstörung der Stadt Ninive niedergeschrieben."

Zuflucht in der "Arche Noah"

Durch das zerstörte Mossul geht es weiter zu Nadias Elternhaus. Sie schluckt, als sie den Vorgarten betritt. Die Bäume sind verkümmert, die Rosensträucher eingegangen. Sie habe ihr Haus nicht mehr wiedererkannt, als sie es im Sommer 2017 mit ihrer Mutter zum ersten Mal wieder in Augenschein nahm, erzählt Nadia: "Unser Hab und Gut lag überall herum. Alles war voller Staub. Die Fenster eingedrückt. Ein wunderschönes Gemälde mit Maria, Josef und dem Jesuskind, das im Wohnzimmer hing, lag zerstört im Dreck." Nadia ist das Haus zu groß – und es hängen zu viele schmerzliche Erinnerungen daran. So hat sie es vermietet, an eine muslimische Familie mit drei Kindern. Im Kleinen funktioniert das Zusammenleben der Religionen.

So auch in der Heilig-Geist-Kirche, der nächsten Etappe von Nadia und Yohanna. Das Gotteshaus, das in seiner markanten Form an die Arche Noah erinnert, ist zur Zufluchtsstätte für vier Familien aus Zumar im Nordirak geworden. Auch dort gab es schwere Kämpfe mit dem IS. So haben die Bewohner aus dem zerstörten Zumar eine vorläufige Bleibe gefunden im noch mehr zerstörten Mossul. "Wegen des Krieges konnten unsere Kinder drei Jahre lang nicht zur Schule gehen", erzählt der 36-jährige Muslim Khalil Hasan Mahammad.

Derweil toben seine Kinder durch das Kirchenschiff. Jede Familie bewohnt einen Raum in der Kirche und dem anliegenden Gebäude. Wie lange die Notlösung noch andauert, weiß keiner. "Der Krieg mit dem IS ist zwar vorbei", erzählt Khalil, "aber jetzt haben die Kurden unser Dorf erobert und uns noch nicht erlaubt, zurückzukehren."

So versucht sich der Familienvater zwischenzeitlich in Mossul nützlich zu machen und ein wenig Geld zu verdienen. "Ich habe zwar ein gelähmtes Bein, aber ich helfe gern mit beim Wiederaufbau zerstörter Häuser", sagt Khalil. In der Tat: Überall sind Aufräumarbeiten im Gange.

Christus in der zerstörten Kirche

Anders in Mor Afraim, der Pfarrkirche von Nadia. "Ich kann nicht glauben, was der IS meiner Kirche angetan hat", flüstert sie, während sie das Gotteshaus betritt. Es hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie das Kloster St. Georg. Die Kirche ist ausgeraubt, beschädigt und mit Koranversen und Schmähungen beschmiert. "Hier saß ich mitten unter meinen Freunden, als die heilige Messe gefeiert wurde. In den Räumen nebenan haben wir uns nach dem Gottesdienst getroffen. Ich bin tieftraurig, wenn ich daran zurückdenke."

Letztlich, so erzählt Nadia, habe bereits ab der Jahrtausendwende eine Entwicklung begonnen, die dann 2014 in die Katastrophe führte: "Viele Muslime haben sich radikalisiert. Ab 2008 wurden immer mehr Christen bedroht, entführt oder getötet. Auch ich habe einen Brief erhalten, in dem es hieß, ich müsse die sogenannte ,Kopfsteuerʼ an die Islamisten zahlen, sonst würde ich später mit meinem Leben bezahlen." Ein bekannter Priester aus ihrer Umgebung sei entführt und regelrecht abgeschlachtet worden. Nicht umsonst haben die Vereinten Nationen und die Europäische Union von Völkermord an den irakischen Christen gesprochen.

Das Leid ist noch nicht zu Ende. "Der Wiederaufbau unserer Kirche wird viel Geld und Energie kosten", sagt Nadia. "Und vor allem: Für wen bauen wir sie wieder auf? Viele Christen sind ins Ausland gegangen, andere zögern mit der Rückkehr." Nach Aussage des chaldäisch-katholischen Patriarchen Louis Raphael Sako sind erst 60 christliche Familien nach Mossul zurückgekommen.

Positiver ist die Lage in den christlichen Ortschaften der Ninive-Ebene, die schon länger befreit sind: Dort sind bereits über ein Drittel der Bewohner zurück, rund 31 000 Menschen. Das weltweite päpstliche Hilfswerk "Kirche in Not" organisiert und unterstützt zusammen mit den örtlichen Kirchen den Wiederaufbau. Ein Schritt, der jetzt auch in Mossul ansteht.

Denn Glaube und Hoffnung haben auch in Trümmern überlebt. Nadia zeigt in der Pfarrkirche nach oben: "Die Kuppel mit dem großen Bild Christi hat die Angriffe des IS relativ gut überstanden. Jesus in dieser zerstörten Kirche über mir zu sehen, erfüllt mich mit großer Freude."


Nadia Younis Butti und Yohanna Youssef Towaya in den Ruinen des St.-Georgs-Klosters in Mossul / © Jaco Klamer (KiN)
Nadia Younis Butti und Yohanna Youssef Towaya in den Ruinen des St.-Georgs-Klosters in Mossul / © Jaco Klamer ( KiN )

Blick in die zerstörte Kirche Mor Afraim / © Jaco Klamer (KiN)
Blick in die zerstörte Kirche Mor Afraim / © Jaco Klamer ( KiN )

Beschädigtes Kreuz über Mossul / © Jako Klamer (KiN)
Beschädigtes Kreuz über Mossul / © Jako Klamer ( KiN )
Quelle:
KiN
Mehr zum Thema