DOMRADIO.DE: Sie sind Jesuit. Papst Franziskus, ebenfalls Jesuit, hat Europa als "alte Dame" bezeichnet. Generell legt er auch den Fokus auf andere Regionen in der Welt. In Ihrer neuen Position werden sie früher oder später mit Franziskus zusammenkommen. Was werden Sie ihm über Europa sagen?
Erzbischof Jean-Claude Hollerich (Erzbischof von Luxemburg und Vorsitzender der EU-Bischofskommission COMECE): Der Papst hat Europa als "alte Dame" bezeichnet, damit wir sozusagen eine Verjüngungskur machen sollen. Er hat auch ein paar große Reden über Europa gehalten, die an sich sehr positiv sind und mit denen er vermitteln möchte, dass Europa etwas lebendiger und aktiver in der Welt sein sollte. Die letzte Rede war bei dem Kongress "(Re)thinking Europe" von der COMECE in Rom.
Ich möchte ihm sagen, dass wir ganz auf seiner Seite stehen für alles, was die großen Probleme angeht. Ich denke da an die Migration, an die Flüchtlinge. Wir müssen - und da weiß ich, dass ich auch mit Kardinal Woelki auf der gleichen Linie bin - christlich handeln und reagieren. Das heißt, dass wir Leute bei uns aufnehmen müssen.
Der Papst hat aber auch einmal gesagt, dass die Leute ein Anrecht haben, in ihrer Heimat zu bleiben. Da müssen wir mit den Politikern der EU reden, dass das Geld der EU nicht nur verwendet wird, um die Leute in Afrika zu isolieren. Sondern dass eine Politik im großen Stil getan wird, damit die Leute Perspektiven in ihrem eigenen Land erkennen und dann bleiben und mitgestalten möchten. Es ist wichtig, dass Europa eine aktive Friedenspolitik in Syrien macht. Die EU muss viel aktiver werden. Die Rolle der COMECE ist es auch, einen Dialog mit den Politikern zu führen, die wort- und federführend in der Europäischen Union sind.
DOMRADIO.DE: Die Aufgabe, Europa unter einen Hut zu bringen, ist eine komplizierte, sowohl für die Politik als auch für die Kirchen. Wir haben Länder wie Polen oder Ungarn, die sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stellen. In Deutschland und Schweden sieht es ganz anders aus - sie sind große Flüchtlingsaufnahmeländer. Wie kann man als Kirche auch die verschiedenen Bischofskonferenzen zueinander bringen, um auch mit einer Stimme zu sprechen?
Erzbischof Hollerich: Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, dass wir einfach mehr aufeinander hören müssen. Der Westen hat manchmal gewisse Vorverurteilungen und damit ist niemandem geholfen. Dann "baggert" man sich in Positionen fest. Ich denke, wir müssen einen wahren Dialog führen und dazu gehört vor allem das Zuhören.
Wir müssen zuhören, um zu erfahren, wie die Leute in Mittel- und Osteuropa empfinden. Sie sehen den Nationalstaat auch anders als im Westen. Ohne gegenseitges Zuhören gehen wir auf eine Katastrophe zu. Ich glaube, auch wenn es Differenzen in der Kirche, Differenzen in den Episkopaten gibt, so ist uns doch bewusst, dass wir eine Kirche sind. Es ist viel leichter, diesen Dialog unter uns zu führen, als es für die Politiker ist. Wir können damit auch ein Zeichen geben, dass wir auf einen wahren, wirklichen Dialog setzen.
DOMRADIO.DE: Wie wollen Sie mit dem Thema Rechtspopulismus umgehen?
Erzbischof Hollerich: Man darf jetzt sicher nicht erwarten, dass ein kleiner Bischof Trends in Europa umkehren könnte. Aber man kann Anstöße geben. Ich glaube, dass das Gefühl, abgehängt zu werden, sehr groß ist. Wir haben nicht nur einen sehr großen Unterschied zwischen armen und reichen Ländern der Europäischen Union, sondern auch zwischen Armen und Reichen innerhalb der Länder. Das kann man an Wahlen wiedererkennen.
Es gibt Länder und Gegenden, die andauernd an Bevölkerung verlieren, weil die jungen Leute, die fähig sind, viel Geld zu verdienen, lieber ins Ausland gehen oder in die Städte ziehen, wo man das tun kann. Andere Gegenden wie Luxemburg haben jedes Jahr Zuwachs. Wir wachsen um 12.000 pro Jahr – das sieht nicht viel aus, aber bei einer Bevölkerung von 600.000 fällt das sehr ins Gewicht. Diese Unterschiede in Europa müssen angesprochen werden.
Ich bin kein Marxist, ich glaube nicht, dass alles nur materiell sei. Ich denke, wir müssen wieder wagen, das Evangelium mehr zu verkünden. Die Leute suchen nach Sinn in ihrem Leben. Wenn man den Sinn verliert, dann sucht man danach und findet ihn oft in Radikalismen wieder. Nach einigen Jahren ist man dann zwar enttäuscht, aber in der Zwischenzeit kann sehr viel Unheil geschehen.
Wir sind jetzt soweit, dass wir denken müssen, dass alles möglich ist. Früher dachten wir, Europa sei endgültig auf einer Schiene, wo die Demokratie gesichert sei, wo ein gewisser Wohlstand in die Zukunft hinein gesichert sei. Unsere Zeit ist unsicherer geworden. Da muss auch die Botschaft Jesu Christi, die Botschaft der Kirche, in ihrer vollen Klarheit verkündet werden, glaube ich. Damit die Leute wieder Hoffnung schöpfen können. Hoffnung gibt immer die Kraft, sich konkret in seinem Lebensumfeld zu engagieren.
Die Familien müssen erkennen, dass sie wichtig sind. Dass man auf diese Urzellen von menschlichem Zusammensein, auch von menschlicher Solidarität, nicht verzichten kann. Wenn die Familien verfallen, verfällt die Gesellschaft. Ich glaube, viele Politiker schwimmen mit dem Trend eines größeren Individualismus mit und verkennen, dass hier ein Abbau der Gesellschaft geschieht. Man kann schließlich auch Politik machen, die das unterstützt oder die dagegenwirkt.
DOMRADIO.DE: Die Zahl der Katholiken in Europa geht zurück, einerseits durch die Säkularisierung, andererseits durch die muslimischen Flüchtlinge, die zu uns kommen. Im Moment sind es noch 54 Prozent der Europäer, die katholisch sind. In den nächsten Jahren wird diese Zahl unter 50 Prozent liegen. Wie sollten sich die Kirchen Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren positionieren?
Erzbischof Hollerich: Die Kirche muss mit Machtdenken aufhören. 'Wir sind die größte Gruppe, also setzen wir etwas durch.' – Wir werden bald nicht mehr die größte Gruppe sein. Außerdem entspricht das auch nicht dem Evangelium.
Wir sollten stattdessen mit allen Menschen guten Willens zusammenarbeiten. Das bedeutet auch eine größere ökumenische Zusammenarbeit aller Christen in Europa. Ich meine damit nicht die Vereinigung der Kirchen, das ist nicht die Rolle der COMECE, sondern ich meine einen gemeinsamen Einsatz für Frieden, für Gerechtigkeit, für Demokratie und für Menschenrechte, die mit dem Evangelium zusammenhängen.
Da müssen wir uns neu positionieren, in ständigem Dialog sein und unsere Position andauernd erklären. Wir sollten auch zuhören, warum andere Leute diese Position nicht teilen. Die sind nicht alle böse, weil sie eine andere Meinung haben. Wie sind sie zu der Meinung gekommen? Wie können wir Überzeugungsarbeit leisten? Wie können wir gemeinsam ein Europa der Zukunft aufbauen?
Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.
Das vollständige Interview hängt als Audio an.