DOMRADIO.DE: "An Gründonnerstag fliegen die Glocken nach Rom." So lautet ein bekanntes Sprichwort. Es steht dafür, dass von Gründonnerstag an bis zur Osternacht die Glocken schweigen und erst dann wieder zu läuten beginnen, wenn die Auferstehung erfolgt ist. Es ist ein Zeichen für den Tod Jesu. Das gilt auch für die Orgeln. Ist die Kölner Domorgel schon reisefertig, um mit den Glocken nach Rom zu fliegen?
Prof. Winfried Bönig (Kölner Domorganist): Die Orgeln fliegen nicht. Die Glocken nehmen die Schlüssel zum Spieltisch mit. Deshalb kann man da nicht dran. Die Orgeln sind ja noch da.
DOMRADIO.DE: Die Schlüssel können Sie auch nicht verstecken?
Bönig: Das will ich nicht. Ich will, soll und möchte auch nicht spielen. Insofern ist das schon ganz in Ordnung. Die sollen schon da mitziehen.
DOMRADIO.DE: Warum macht man das?
Bönig: Man will natürlich die Trauer und die Dramatik betonen. Es muss dem Ganzen eine besondere Gestalt geben. Ich finde es schon sehr eindrücklich, wie es sich im Laufe der Liturgiegeschichte entwickelt hat. Man merkt einfach, dass das Fehlen von etwas ein Ausdruck davon ist, dass etwas anderes da ist. Umso mehr sich das ja auch daraufhin steigert, dass in der Osternacht der große Auftritt wieder kommt. Es ist eigentlich eine unglaublich schöne Dramaturgie.
DOMRADIO.DE: Dann ist das also auch noch heute zeitgemäß?
Bönig: Gerade heute ist es zeitgemäß. Wir sprechen immer von der "akustischen Umweltverschmutzung". Wo hört man keine Musik? Wenn man ins Kaufhaus geht, ins Lokal geht oder auf der Straße ist, hört man überall Musik. Eigentlich ist das Schweigen dann etwas Besonderes. Umso mehr passt das heutzutage.
DOMRADIO.DE: Man sagt, es ist die Feier der heiligen drei Tage: Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag mit der Feier der Osternacht. Warum schweigt ausgerechnet bei dieser wichtigsten Feier des Kirchenjahres die Orgel als das Instrument der Kirche?
Bönig: Es gibt auch Argumente, die man anführen könnte, warum die Orgel spielen sollte. In der evangelischen Kirche ist es ja auch nicht so. Da wird die Orgel eingesetzt und da gibt es großartige Musik von einigen Komponisten und großartige Orgelmusik zur Passion. Man muss sich halt entscheiden. Lässt man die Orgel ihren Part spielen oder sagt man etwas radikaler, dann spielt sie eben nicht. Die Musik hört ja nicht auf zu existieren. Im Gegenteil. Am Karfreitag sind es die großartigsten Momente, wenn die Chöre a capella singen. Ich habe es auch an meiner früheren Pfarrstelle immer sehr genossen, wenn die Gemeinde dann ohne Orgel gesungen hat und es dann von Strophe zu Strophe immer besser ging. Manchmal hat man sogar das Gefühl, es ist eine ganz lehrreiche Sache, dass einmal die Orgel nicht alles in Watte packt.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, dass man dies konsequent durchziehen sollte. Es gibt es ja durchaus auch in katholischen Kirchen immer wieder, dass anstatt der Orgel ein Klavier oder eine Flöte in der Karfreitagsliturgie gespielt wird und zumindest die Lieder der Gemeinde begleitet.
Bönig: Ich bemerke manchmal ein bisschen Angst gerade bei den Zelebranten. Wenn die Orgel nicht spielt, dann könne die Gemeinde nicht singen. Ich habe aber das Gefühl, dass das Singen unter Umständen sogar besser und engagierter wird, wenn man das eben nicht so begleitet. Da würde ich manchmal allen Beteiligten mehr Mut wünschen.
DOMRADIO.DE: Freut man sich eigentlich als Organist auf die Karwoche oder ist das Stress?
Bönig: Nein, Stress ist es nicht. Es herrscht manchmal ein bisschen Spannung und natürlich läuft das nicht immer gleich ruhig ab, aber eigentlich ist die Karwoche musikalisch eine Freude.
DOMRADIO.DE: Was macht diese Woche für Sie so besonders?
Bönig: Die Woche ist besonders für die Kirchenmusiker, weil sie so viele verschiedene Aspekte bietet. Als Domorganist bin ich in meiner Tätigkeit nur an einem Teil beteiligt. Am Gründonnerstag spielt die Orgel noch einmal und dann schweigt sie bei den großen Feiern am Karfreitag. Ich habe das trotzdem mit meiner musikalischen Muttermilch eingesogen. Ich war ja lange Jahre als Kirchenmusiker in einer großen Pfarrei in Süddeutschland tätig und habe dort jede Minute dieser Gottesdienste mitgestaltet. Deswegen habe ich diesen Ablauf auch immer noch im Blut. So etwas gibt es nicht nochmal. So einen Ablauf von Zeremonien und Liturgie. Das ist schon wirklich immer sehr schön.
DOMRADIO.DE: Was sind die besonderen Herausforderungen für Sie als Musiker?
Bönig: Einfach die Tatsache, dass man nicht die üblichen Abläufe eines Sonntagsgottesdienstes hat. Man weiß ja in der katholischen Kirche, dass diese Abläufe immer gleich sind. Man hat dadurch auch ein bisschen Raum, das musikalisch zu gestalten, weil man sich in einem sicheren Netz bewegt. Man kann sich auf den Inhalt konzentrieren. In der Karwoche ist es so, dass man doch immer ein bisschen auf den Ablauf schauen muss. Die Stellung des Halleluja in der Osternacht ist beispielsweise anders als sonst. Da muss man aufpassen, dass man nicht plötzlich automatisch agiert. Durch die Gestaltung in der Osternacht entstehen auch immer neue und andere Stimmungen, wo man vielleicht auch ein bisschen leiser oder lauter spielt. Das sind alles Dinge, die in dieser Ausführlichkeit und Häufigkeit täglich im Kirchenjahr nicht so passieren.
DOMRADIO.DE: Wir sind ja schon thematisch bei der Osternacht angekommen. Wenn man sich mit Musikern über diese Momente unterhält, dann gibt es verschiedene Stile, das anzugehen. Der eine fängt sofort im Tutti der Orgel an und holt das Festlichste und Größte aus der Orgel raus, was geht und der andere sagt, er fängt lieber leiser an und holt die Orgel langsam Register für Register aus der dunklen Zeit zurück ins Osterfest. Wie interpretieren Sie das?
Bönig: Das habe ich beides schon gemacht. Das ist etwas, das aus dem Moment kommt. Das kann so oder so sein. Ich würde wahrscheinlich gerade im Dom, weil die Orgeln dort so eine Wucht im Klang haben, nicht mit dem vollen Werk anfangen. Meine Intention ist es nicht, die Leute zu erschrecken. Das passiert, wenn es plötzlich in diese Dunkelheit akustisch reinfährt. Das kann man aber auch machen. Dann ist es eben wie ein Blitz, der in die Welt hineinfährt. Aber da bin ich mir nicht sicher, ob das auch überall so ankäme. Dass man vom Leisen zum Lauten kommt oder eben gleich laut einsteigt - diese zwei Möglichkeiten existieren. Mal schauen, wie es in diesem Jahr kommt.
DOMRADIO.DE: Mit Musik verbindet man auch immer Emotionen. Das betrifft, wenn man die kirchlichen Feste anschaut, vor allem Weihnachten. Da hat so jeder sein Lieblingslied oder seine Lieblingsmelodie, die er mit diesen Tagen verbindet. Das trifft auf die Karwoche und Ostern nicht so zu. Da gibt es nicht so viele Melodien und Lieder wie "Stille Nacht", die bei jedem Emotionen auslösen. Gibt es trotzdem für Sie bestimmte Melodien, die zur Karwoche und Ostern gehören?
Bönig: Für mich gehört schon "Christ ist erstanden" zu Ostern. Das ist eine ganz alte Melodie um die Jahrtausendwende. Da stelle ich mir vor, wie das wohl vor tausend Jahren im alten Dom geklungen hat. Das ist schon etwas ganz besonderes. Bei einem Lied, das über Jahrhunderte geblieben ist und dann immer zu diesem Anlass gesungen wird, geht mir auch das Herz auf.
Das Interview führte Matthias Friebe.