KNA: Frau Goltermann, 2015 ist der Flüchtlingsjunge Aylan vor der türkischen Küste ertrunken, sein Bild ging um die Welt. Ihn nehmen wir selbstverständlich als Opfer wahr – oder?
Svenja Goltermann (Historikerin und Professorin an der Universität Zürich): Wir denken, dass diese Wahrnehmung selbstverständlich ist. Historisch betrachtet ist es aber ein recht neues Phänomen, Menschen, die auf tragische Weise ums Leben gekommen sind, als Opfer zu betrachten. Noch im 18. Jahrhundert hätten viele Menschen von Schicksal oder vom Willen Gottes gesprochen. Wenn wir jemanden als Opfer bezeichnen, heißt das zugleich, dass wir jemandem die Verantwortung für dessen Leid und Tod geben. Im Fall von Aylan haben manche den Vater des Jungen verantwortlich gemacht, andere die europäischen Staaten und ihre Flüchtlingspolitik.
KNA: Seit wann hat der Opferbegriff diese Bedeutung?
Goltermann: Die Figur des Opfers hat sich in diesem Sinne seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Das Wort "Opfer" gab es zwar vorher schon, aber verwendet wurde es viel häufiger in der Bedeutung, dass man ein Opfer für etwas erbrachte. Das hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts dann deutlich verändert; immer mehr Menschen wurden als Opfer bezeichnet – in dem Sinne, dass sie Opfer von etwas geworden waren, dass ihnen Leid zugefügt worden war. Das hing unter anderem damit zusammen, dass sich Vorstellungen von legitimer und illegitimer Gewaltausübung verschoben haben; überhaupt ist unser Verständnis von Gewalt breiter geworden. Neues psychiatrisches und psychologisches Wissen spielt dafür eine Rolle, etwa, dass Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzlich sind.
KNA: Auf Schulhöfen ist "Opfer" seit ein paar Jahren eher ein Schimpfwort. Woher kommt das?
Goltermann: Jugendliche testen oft Grenzen, das spielt sicher eine Rolle für diese Entwicklung. Zugleich würde ich aber sagen, dass sie ein feines Sensorium für gesellschaftliche Prozesse haben. Ob dieses Schimpfwort etwas Neues aufgreift oder an historisch-negative Konnotationen anknüpft, die das Wort "Opfer" nie gänzlich abschütteln konnte, ist schwer zu sagen. Es ist aber zu beobachten, dass die Konnotation sich wieder ins Negative verschiebt, etwa wenn jemand in den Verdacht gerät, sich ungerechtfertigt als Opfer zu bezeichnen oder überhaupt offen Schwäche zeigt.
KNA: Manche aktuellen Debatten erinnern daran, dass arme Menschen im frühen 19. Jahrhundert als "Schande" und nicht als Opfer der Verhältnisse galten, ihre Armut als "selbstverschuldet". Kehrt dieses Denken zurück?
Goltermann: Dieses Denken war nie ganz verschwunden. Auch wenn wir in Deutschland immer noch ein gutes soziales Netz haben, macht sich aktuell der Abbau des Sozialstaats bemerkbar. Ein weiterer Faktor ist das Konzept der Resilienz: Es gibt Unmengen an Ratgebern, wie man widerstandsfähiger werden könnte – und es ist ja auch kein schlechter Gedanke, sich auszurüsten, um Stresssituationen besser aushalten zu können. Wenn daraus aber eine Ideologie wird, wird es problematisch: wenn jemand zusammenbricht, beispielsweise seinen Job verliert – und das als alleinige Schuld des Individuums gilt, weil es vermeintlich nicht stark genug ist. Diese Tendenz gibt es momentan.
KNA: Zugleich wehren sich Menschen nach Gewalttaten mitunter dagegen, auf eine Opferrolle festgelegt zu werden. Wie können etwa die Medien dem gerecht werden?
Goltermann: Die Massenmedien haben da sicherlich eine doppelte Aufgabe: Einerseits sind sie ja nötig, um über Leid in Kriegs- und Krisengebieten oder über Katastrophen und Unrecht bei uns zu informieren. Wie sie berichten, reagiert dabei allerdings auch auf eine spezifische Aufmerksamkeitsökonomie, die sich herausgebildet hat. Leser interessieren sich oft nur dann für das Leid von Menschen, wenn sie als Opfer dargestellt werden.
Andererseits vermisst man gelegentlich auch einen sensibleren Umgang der Medien bei der Berichterstattung: Sie könnten beispielsweise durchaus sorgfältiger auf die Sprache achten. So haben die Begriffe "Geschädigte", "Verletzte", "Leidtragende" nicht die gleiche Konnotation wie das Wort "Opfer". Es betont ja nicht nur das Unschuldige, sondern eben auch und das Passive. Und: Nicht jeder Mensch, dem etwas Schreckliches widerfahren ist, möchte in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Das sollte respektiert werden.
KNA: Müsste auch die Gesellschaft stärker auf Opfer von Gewalttaten eingehen?
Goltermann: Es kommt sehr auf die einzelnen Fälle an. Öffentliche Äußerungen sind etwas anderes als psychologische Anlaufstellen, die es in vielen Fällen ja gibt. Ein Attentat wirft zum Beispiel bei vielen Hinterbliebenen die Frage nach Gerechtigkeit auf, und manche wünschen sich deutliche Äußerungen von Politikern. Das ist aber individuell sehr verschieden.
KNA: Häufig wird kritisiert, dass etwa nach Terrorakten jeder den Namen der Täter kenne, sich für die Opfer aber niemand interessiere. Zu Recht?
Goltermann: Probleme gibt es hier sicher in mehrfacher Hinsicht. Denn manchmal werden auch Namen von Tätern in den Medien genannt, über die noch keine Gewissheit besteht, und vor allem werden die Anhörigen und ihr Leben mit in die Berichterstattung hineingezogen. Auch da wäre etwas mehr Zurückhaltung sinnvoll. Was die Opfer betrifft: Manchen ist es wichtig, aus ihrem Leid eine Geschichte zu machen. Andere wollen die Erfahrung für sich behalten. Weitgehende Einigkeit besteht eigentlich nur über wenige Punkte: Etwa nach einer Naturkatastrophe oder einem Flugzeugabsturz wollen wir wissen, was passiert ist, und verstorbene Angehörige in der Nähe beisetzen können. Alles weitere ist sehr individuell – auch die Frage, ob Menschen die Öffentlichkeit suchen oder im kleinen Kreis trauern.
KNA: Welche Rolle spielt die christliche Konnotation des Begriffs "Opfer" heute?
Goltermann: Das ist nicht leicht zu beantworten. Heute ist in vielen Zusammenhängern in einem recht weiten Sinne von "aufopfern" die Rede - eigentlich überall dort, wo jemand Einbußen hinnimmt. In Westeuropa verlangt heute jedoch niemand von uns, zum äußersten zu gehen und unser Leben zu opfern. Das Militär ist einer der wenigen Bereiche, in denen das tatsächlich noch vorkommt, etwa als "Opfer für die Demokratie". Ansonsten aber sind die meisten von uns in einer so glücklichen Situation, dass uns kaum ein wirkliches Opfer abverlangt wird. Wenn wir etwas von uns hergeben, ob das nun Geld ist oder eine Organspende, so ist das nicht wirklich ein Opfer: Es ist eine Spende.