Deutschland und das Abendland seien christlich-jüdisch geprägt, heißt es derzeit häufig. Das klingt so, als sei jahrhundertelang alles ganz wunderbar gelaufen zwischen Christen und Juden. Manche Juden wie der Historiker Michael Wolffsohn reagieren darauf allergisch. Am Mittwoch haben der Zentralrat der Juden in Deutschland, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und der Deutsche Evangelische Kirchentag den Verein "321: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" gegründet. Er soll sich mit der Bedeutung der jüdischen Kultur und Geschichte für Deutschland und Europa befassen.
Fest steht: Jüdisches Leben in Deutschland lässt sich seit mindestens 1.700 Jahren nachweisen. Es gab Zeiten der Blüte, aber genauso Zeiten der brutalen Verfolgung und Ausgrenzung. Der älteste schriftliche Nachweis stammt aus dem Jahr 321 aus Köln. Damals erlaubte der römische Kaiser Konstantin seinem Statthalter in Colonia, auch Juden in den Rat zu berufen.
Höchststand bis 1350
Im Karolingerreich tauchten Juden vor allem als einzelne Händler oder Diplomaten auf. Die ältesten urkundlich bezeugten jüdischen Gemeinden siedelten seit dem 10. Jahrhundert in Bischofsstädten wie Mainz, Trier, Worms und Speyer. Auch in Regensburg sind bereits für das Jahr 981 Juden als Einwohner bezeugt.
Im ausgehenden 10. Jahrhundert gab es nach Schätzungen rund 4.000 bis 5.000 jüdische Einwohner im Reich. Bis 1350 erreichten die Gemeinden ihren zahlenmäßigen und kulturellen Höchststand. Fürsten und Bischöfe stellten die Juden unter Schutz und verliehen ihnen Handelsprivilegien. Händler, Geldverleiher oder Verwalter von Münzstätten: Die wirtschaftliche Bedeutung der Juden in den neu entstehenden Städten des ausgehenden 12. und des 13. Jahrhunderts dokumentiert sich in der marktnahen Lage des jeweiligen Judenviertels. In Mainz, Worms und Speyer entstanden im 11. Jahrhundert zudem bedeutende Gelehrtenschulen.
Progrome im 11. Jahrhundert
Doch schon die Kreuzzüge des 11. Jahrhunderts führten zu massiven Pogromen, die die jüdischen Gemeinden in ihrer Existenz gefährdeten. Nach den Pestpogromen des 14. Jahrhunderts sollte das jüdische Leben bis ins 19. Jahrhundert hinein nie wieder die Blüte erreichen, die es vor 1350 erlebt hatte. Allerdings: Herrscher und Städte blieben auf die Juden angewiesen.
Juden wurden in eine Außenseiterrolle gedrängt, weil sie einerseits keinen Zugang zu Zünften und anerkannten Handwerksberufen hatten, andererseits jedoch das Zinsverbot für sie nicht galt. In den Städten wurden die Juden nach und nach in Ghettos gedrängt. Kirchliche Konzile verlangten von ihnen, sich durch Judenhut oder gelbe Flecke auf der Kleidung kenntlich zu machen. Zwangspredigten und -taufen führten, verbunden mit den Vorwürfen des Hostienfrevels und der Blutschuldlüge, zu Pogromen oder Ausweisungen. Die Hoffnungen auf mehr Toleranz durch Humanismus und Reformation erfüllten sich nicht.
Neue Perspektiven
Das Zeitalter der Aufklärung eröffnete neue Perspektiven. Lessings "Nathan der Weise" formulierte 1779 das Modell eines toleranten Umgangs der großen Weltreligionen. 1782 verbesserte Kaiser Joseph II. die Situation der Juden in den österreichischen Erblanden. Die Französische Revolution und Napoleon brachten auch den Juden in Gebieten des heutigen Deutschland zwischenzeitlich die rechtliche Gleichstellung.
Dennoch blieb die Lage prekär. Bis weit ins 19. Jahrhundert äußerte sich eine latente Judenfeindschaft in örtlichen antijüdischen Aktionen und Pogromen. Die Industrialisierung eröffnete dann erstmals mehr Freiräume. Viele Juden schafften den Aufstieg in den Mittelstand. Sie drängten in akademische Berufe, wurden Ärzte und Rechtsanwälte. Staatsdienst und Militär blieben ihnen allerdings lange verschlossen. Mehrheitlich patriotisch gesinnt und kulturell integriert, wurden sie zu einer Kerngruppe des aufblühenden Bürgertums. Es bildete sich ein jüdisches Milieu mit eigenen Vereinen und engen familiären Beziehungen. 1869 erklärten der Norddeutsche Reichstag und 1871 der gesamtdeutsche Reichstag die bürgerliche Gleichstellung der Juden zum Gesetz.
Zunehmender Judenhass
Die Kehrseite war ein immer lauter werdender Antisemitismus, der sich nicht mehr nur auf religiösen Judenhass, sondern zunehmend auf vermeintliche rassische Unterschiede berief. So wandte sich Richard Wagner in seiner 1850 erschienenen Schrift "Das Judentum in der Musik" mit rassistischen Argumenten gegen den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. 1878 formulierte der Historiker Heinrich von Treitschke die griffige Formel "Die Juden sind unser Unglück", die zum "kulturellen Code" des protestantischen Bildungsbürgertums wurde.
Auch die Weimarer Republik war für die Juden äußerst ambivalent. Auf der einen Seite fielen alle rechtlichen Beschränkungen. Andererseits verstärkten die Krisen den Einfluss der Antisemiten. Sie gaben den Juden die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg und am Versailler Vertrag. Die «Ostjuden» und der vermeintlich große Einfluss der Juden in Kultur, Medien und Wirtschaft wurden bevorzugte Angriffsziele.
Deportation und Vernichtung
Daran knüpften die Nationalsozialisten an. Die jüdischen Bürger wurden zunehmend ihrer Existenzgrundlage beraubt. Diejenigen, die nicht auswandern oder abtauchen konnten, wurden von Deportation und Vernichtung bedroht. 1933 lebten im Deutschen Reich rund 570.000 Juden. Im Holocaust wurden 180.000 von ihnen ermordet. 1950 gab es in Deutschland noch etwa 15.000 Juden. Eine Zukunft jüdischen Lebens im Land der Täter schien unwahrscheinlich.
Heute gehören wieder mehr als 100.000 Juden zu den offiziellen jüdischen Gemeinden. Spitzenorganisation der Gemeinschaft ist der 1950 gegründete Zentralrat der Juden. Allerdings: Antisemitische Übergriffe und Beschimpfungen haben wieder zugenommen. Jüdische Einrichtungen stehen unter Polizeischutz.