Trauma-Expertin beklagt mangelhafte Versorgung von Flüchtlingen

"Die psychische Gesundheit kann nicht warten"

Experten schätzen, dass gut ein Drittel der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge massiv traumatisiert sind. Die Nationalakademie Leopoldina sieht daher dringenden Handlungsbedarf und beklagt fehlenden politischen Willen.

Flüchtlinge: Viele sind traumatisiert / © Filip Singer (dpa)
Flüchtlinge: Viele sind traumatisiert / © Filip Singer ( dpa )

KNA: Flüchtlinge erreichen Deutschland oft traumatisiert, was sind die Hauptauslöser?

Maggie Schauer (Direktorin des Kompetenzzentrums Psychotraumatologie an der Universität Konstanz und Mitglied der zuständigen Arbeitsgruppe an der Leopoldina): Wir würden heute nicht mehr von einer "Flüchtlingskrise", sondern von einer globalen Krise der mentalen Gesundheit sprechen.

Flucht birgt potenzielle Traumata, aber in einem Umfeld von Armut und Krieg über Generation gibt es bereits eine hohe Traumatisierungsrate der zivilen Gesellschaft. Vor allem im Kleinkindalter und in der Jugend sind solche Einflüsse fatal.

KNA: Das heißt, die meisten machen sich bereits traumatisiert auf den Weg?

Schauer: Ja, vor der Flucht gibt es multiple Traumaquellen und auch auf der Flucht. Es gibt lebensbedrohliche, gewalttätige Ereignissen und Stressoren wie etwa sexuelle Gewalt, die nicht zum Tode führt, aber schwere Symptome zur Folge hat. Und es gibt soziale Traumata, etwa durch Vernachlässigung oder Erniedrigung. All das kann zu Funktionsuntüchtigkeit im Alltag führen.

KNA: Kann man die Zahl der traumatisierten Flüchtlinge quantifizieren?

Schauer: Nicht jeder, der eine lebensbedrohliche Erfahrung gemacht hat, hat sofort eine klinische Störung. Schätzungen zufolge haben 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Geflüchteten eine Trauma-Folgestörung, bei Kindern dürften es etwa 20 bis 30 Prozent sein. In über der Hälfte dieser Fälle ist die Erkrankung so massiv, dass professionelle Hilfe notwendig wird. Man spricht dabei von einem "Baustein-Effekt".

Je mehr traumatische Erlebnisse zusammenkommen, je früher sie stattfinden und je später eine Behandlung beginnt, desto wahrscheinlicher werden Krankheitsbilder chronisch oder verschlimmern sich.

KNA: Wie hoch ist die Vergleichszahl in der deutschen Bevölkerung?

Schauer: Bei handfesten traumatischen Störungen geht man von sechs bis acht Prozent aus. Es gibt aber viele Depressionen, die vermutlich von Traumata ausgehen und beim Missbrauch haben wir eine hohe Dunkelziffer.

KNA: Gibt es Flüchtlingsgruppen, die besonders gefährdet sind?

Schauer: Vor allem Kinder, Jugendliche, und Menschen, die schon vor Krieg und Flucht Traumata und schwere Belastungen erlebt haben.

KNA: Wie erkennt man eine Traumatisierung?

Schauer: Klassische Trauma-Symptome sind das Wiedererleben, das Vermeiden von Erinnerungsreizen, Veränderungen der Kognition und Stimmung, wie Interessensverlust, Aggression, Gedächtnisprobleme und vieles mehr, auch Funktionsverlust sozial und beruflich.

KNA: Die Leopoldina fordert in der Stellungnahme schnelles Handeln. Wie wurde bislang mit möglicherweise traumatisierten Flüchtlingen umgegangen?

Schauer: Es gibt bislang keine systematische Erfassung. Meistens fallen diejenigen auf, die sich schwierig oder aggressiv verhalten. Wer depressiv oder zurückgezogen ist, erhält viel weniger Beachtung.

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht vor, dass in den ersten 15 Monaten nur akute Gesundheitsbeschwerden behandelt werden. Das heißt höchstens ein psychotischer Patient, etwa bei Verfolgungswahn, würde akut therapiert. Ab dem 16. Monat werden Asylbewerber versorgt wie Sozialhilfeempfänger. Aber in Deutschland besteht ja schon ein massives Versorgungsproblem an spezifischer Traumatherapie.

KNA: Und wie sieht das Versorgungsangebot aus?

Schauer: Sehr mager. Psychotherapeuten sind häufig sehr motiviert. Man kann aber nicht zeitgleich viele schwer traumatisierte Asylbewerber behandeln. Außerdem fehlt es an grundlegenden Voraussetzungen, etwa einer Abrechnungsmöglichkeit für Dolmetscher.

Es gibt zusätzlich zum Kassenangebot bundesweit circa 37 sogenannte Psychosoziale Zentren, meist Vereine oder Initiativen, die sich vorrangig um Asylbewerber kümmern. Dort gibt es neben anderer Beratung etwa 5.000 Therapieplätze. Angesichts von etwa einer Million Flüchtlinge allein im Jahr 2015 reicht das alles vorne und hinten nicht. Noch schlechter steht es um die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen.

KNA: Wie viele Therapieplätze müssten mindestens geschaffen werden?

Schauer: Wir brauchen nicht eine Mindestzahl, sondern ein Stufenmodell. Nicht jeder braucht eine umfängliche 1:1 Therapie.

Vielmehr muss mit Akteuren an den Schnittstellen gearbeitet werden, etwa mit Gesundheitslotsen oder Traumaberatern, die frühzeitig psychische Probleme erfassen lernen. Die Politik muss finanzielle Rahmenbedingungen schaffen und auch neue Berufsbilder bezahlen. Hier macht die Arbeitsgruppe der Leopoldina konkrete Vorschläge. Denn es braucht ein Umdenken. Die Folgeschäden für die Betroffenen und die Belastungen für die aufnehmende Gesellschaft werden unterschätzt.

KNA: Das hört sich so an, als ob jeder Flüchtling von Anfang an betreut werden sollte, auch einer, der wieder in seine Heimat zurückkehren muss?

Schauer: Die Annahme, ein Großteil der Migranten verlasse Deutschland wieder, ist schlicht falsch. Die Menschen haben für ihre Flucht viel auf sich genommen und versuchen alles für eine Zukunft in Deutschland. Wenn ich daher zu spät behandele, verpasse ich wertvolle Zeit für eine erfolgreiche Therapie und für die Integration - gerade bei Kindern. Die psychische Gesundheit kann nicht warten, der Schaden ist immens.

Das Interview führte Anna Mertens.


Quelle:
KNA
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