Wie viel Revolte steckt in Bibel und Christentum?

Von Onan dem Barbaren zu Franziskus dem Radikalen

Die Bibel wimmelt von Revoluzzern und Widerständigen. Und doch stellt sich nach 2.000 Jahren - und 50 Jahre nach 1968 - die Frage: Wie viel Rebellion steckt tatsächlich noch drin im Christentum?

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Die Bibel ist voll von Aufbäumern, Revoluzzern und Widerständigen. Und doch ist nach 2.000 Jahren Christentum - und 50 Jahre nach 1968 - die Frage unbeantwortet: Wie viel Revolte haben Bibel und Christen der Welt zu bieten?

Im Alten Testament gibt es etwa Onan, der sich weigerte, den Befehl seines Vaters Juda auszuführen, seine Schwägerin Tamar zu schwängern. Er ließ seinen Samen ungenutzt zu Boden fallen - und musste für seine Unbotmäßigkeit sterben. Moses widerstand dem Pharao - und führte sein Volk aus Ägypten.

Politischer Aufstand war mit Jesus nicht zu machen

Vom "Messias" erwarteten die Juden unter anderem, dass er sie von der Fremdherrschaft befreie. Doch mit Jesus war ein politischer Aufstand gegen die Römer nicht zu machen. Stattdessen riet er, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott zu geben, was Gottes ist. Dafür schmiss er die Händler achtkantig aus dem Tempel.

Seitdem ist die Frage nach dem revolutionären Potenzial des Christentums immer auch vom jeweiligen Standort der Kirche in der Geschichte zu beantworten. Der antiken Gesellschaft lebte die vor allem städtische Minderheit der Christen einen glaubwürdigen alternativen Lebensentwurf vor, der nicht nach der Logik von Macht und Besitz funktionierte. Ist das schon Revolution? Revolutionär war es jedenfalls.

Anderes Bild mit der Einführung des Christentums als Staatsreligion

Nachdem das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion wurde, änderte sich das Bild. Rebelliert wurde fortan gegen Bischof und Papst. Kirche war nun über eineinhalb Jahrtausende selbst das Establishment - und ging allzu häufig ungute Bündnisse mit der Macht ein. Kreuzzüge, Reformationskriege und Bauernaufstände belegen zudem, wie viel auch negative Emotion und Radikalität über Religion zu generieren sind.

Die Französische Revolution von 1789: ein klassischer Fall, wie Kirche selbst zum Ziel und Gegenstand des Umsturzes wurde. In Lateinamerika, Asien und Afrika brauchte es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, um die traditionelle Allianz zwischen der Kirchenleitung und den herrschenden politischen Eliten aufzubrechen.

Blutige Bürgerkriege und Militärdiktaturen

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die "Theologie der Befreiung" auf der einen und zahlreiche blutige Bürgerkriege und Militärdiktaturen auf der anderen Seite brachten die Kirche - nach vielen mit Schuld und Versagen beladenen Episoden - zu einer "vorrangigen Option für die Armen" und Unterdrückten. Dafür gerieten Bischöfe und christliche Menschenrechtler ins Visier gedungener Mörder.

In Europa folgten unterdessen der Euphorie des Konzils eine mitunter übers Ziel hinausschießende Experimentierfreude und Ausritte nach recht weit links. Viele konservative Christen wurden durch die traumatische "Revolution der 1968er" in der Meinung bekräftigt, die Kirche habe sich zu sehr dem Zeitgeist angedient.

Christentum und Marxismus

Die Sicht auf die revolutionäre Befreiungstheologie ist bis heute mit Ideologisierungen behaftet. Für Johannes Paul II. (1978-2005), den Papst aus dem kommunistisch regierten Polen, war der Gedanke an eine Verquickung von Christentum und Marxismus unerträglich. Ein "Rollback" war die Folge: Die nachfolgende Bischofsgeneration Lateinamerikas stand deutlich weniger "links" als die der 70er/80er Jahre.

Zugleich hielten Botschaften der lateinamerikanischen Theologie Eingang in die offizielle Sozialverkündigung der römischen Kirchenleitung - erst recht natürlich seit der Papstwahl des Lateinamerikaners und Randgängers Franziskus vor fünf Jahren. Darstellungen zeigen ihn schon mal als Supermann oder als Revolutionär mit Che-Guevara-Kappe.

Doch der Mönch und Buchautor Thomas Quartier widerspricht. Er sehe Franziskus "nicht mehr oder weniger als Revolutionär als viele andere authentische Menschen in der Kirche", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der Papst traue sich aber, das Bestehende radikal - also von der Wurzel her - zu hinterfragen und "uns auf etwas radikalere Art und Weise aufzufordern, religiöse Selbstverständlichkeiten loszulassen". Die Aussagen des Papstes seien kein "neues Evangelium"; es gehe vor allem darum, Verkrustungen aufzubrechen. Auch das kann eine immer neue Kraft des Christentums sein. Eine, die es braucht, um selbst zu überleben.


Quelle:
KNA