KNA: Was reizt Sie als Theologen an Gesetzestexten?
Klaus Lüdicke (emeritierte Münsteraner Kirchenrechtler): Ich hatte damals hier in Münster einen Kirchenrechtslehrer von großer geistiger Klarheit. Seine Logik fand ich faszinierend.
Später habe ich dann auch Jura studiert - und dann lag die Spezialisierung auf das Kirchenrecht nahe. Recht gehört zur Lebensordnung einer jeden Gemeinschaft. Das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Kirche.
KNA: Kommt der Glaube nicht ohne Gesetze aus?
Lüdicke: Papst Franziskus macht in seinen Ansprachen oft klar, dass der Schwerpunkt des Christentums an ganz anderer Stelle liegt als in irgendeiner Gesetzesfrömmigkeit. Das stimmt natürlich. Eine Kirche ohne Recht wäre aber wie ein Tier ohne Skelett. Eine Gemeinschaft braucht Strukturen - auch eine Glaubensgemeinschaft. Das Kirchenrecht ist kein Selbstzweck, es ist nicht der Gegenstand des Glaubens. Aber es konkretisiert ihn und sichert die gemeinsame Lebensordnung.
KNA: Woran kann ein Katholik eine positive Wirkung des Kirchenrechts verspüren?
Lüdicke: Das Segensreiche am Kirchenrecht erfährt man immer dann, wenn Rechtlosigkeit droht. Wenn die Willkür derjenigen in der Kirche, die die Entscheidungsmacht haben, an die Stelle rechtlicher Normen tritt. Das ist ja in der Vergangenheit vor dem Hintergrund eines absolutistischen Selbstverständnisses des kirchlichen Amtes oft genug geschehen.
KNA: Das katholische Kirchenrecht - der Codex Iuris Canonici (CIC) - wird 100 Jahre alt. Worin liegt die besondere Bedeutung des Gesetzeswerkes?
Lüdicke: Der Codex von 1918 ahmt die abstrakten Gesetzeswerke nach, die im zivilen Bereich seit dem späten 19. Jahrhundert geschaffen worden waren wie StGB und BGB. Damit hat die Kirche ihr Rechtssystem von einem Fall- auf ein Gesetzesrecht umgestellt. Das hatte den Vorteil, dass das Kirchenrecht allgemeingültiger anwendbar wurde. Mit dem abstrakten Gesetzesrecht hat sich die Kirche - entsprechend dem Trend der Zeit - aber auch ein sehr starres Recht gegeben. Das hatte den Nachteil, dass das Kirchenrecht sich von der Verankerung in der Lebenswirklichkeit der Kirche stärker entfernte.
KNA: Könnten Sie das an einem Beispiel erläutern?
Lüdicke: Es ist für den Richter ein Unterschied, ob er eine Rechtsfrage anhand schon entschiedener Beispielsfälle oder nach einer abstrakten Norm beurteilen soll. Die Orientierung an Fällen erlaubt eine situationsgerechtere Entscheidung.
KNA: Was hat die Reform des CIC von 1983 gebracht?
Lüdicke: Damit wurden die Hauptbeschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils in die Rechtsstruktur übersetzt, etwa das Verhältnis von Klerikern und Laien. Der größte Fortschritt der Codex-Reform von 1983 liegt aber darin, dass sie das Kirchenbild verändert hat. Der Codex von 1918 ging ja noch von einer «societas perfecta» aus - also einem Gebilde gleich dem Staat und von einer Art doppelter Staatsbürgerschaft der Katholiken. Damit schienen sie immer zwei Herren unterworfen zu sein. Davon hat der Codex 1983 Abstand genommen. Er beschränkt sich auf den rein kirchlichen Bereich und lässt der zivilen Wirklichkeit ihren Raum, in den das Kirchenrecht nicht mehr hineingreift.
KNA: Können Sie auch hier ein Beispiel nennen?
Lüdicke: Der Codex von 1918 normierte das sogenannte privilegium fori. Damit beanspruchte die Kirche, Kleriker von der weltlichen Gerichtsbarkeit freizustellen. Man stelle sich das einmal heute nach den Fällen des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche vor!
KNA: Dass es überhaupt ein Kirchenrecht gibt, wird manchem katholischen Paar beim Scheitern der Ehe bewusst - und zwar auf eher schmerzliche Weise. Gibt es zu den Verfahren, bei denen Kirchengerichte eine nicht zustandegekommene Ehe feststellen und tief in die Intimsphäre von Paaren eindringen, keine Alternative?
Lüdicke: Rechtliche Probleme macht das Scheitern einer Ehe erst, wenn eine andere Ehe geschlossen werden soll. Unter der Voraussetzung, dass die Kirche eine vollzogene und gültig geschlossene Ehe für unauflöslich hält und nach deren Scheitern eine Zweitehe ausschließt, gibt es als Ausweg nur die Prüfung, ob die erste Ehe wirklich gültig war. Es ist in gewissem Sinne misslich, dass die römisch-katholische Kirche aus Jesu Verkündigung den Schluss gezogen hat, dass eine Scheidung nicht nur unerlaubt, sondern unmöglich sei. Diese Sichtweise ist ja singulär gegenüber anderen christlichen Konfessionen. Wer also in der katholischen Kirche ein zweites Mal eine Ehe schließen will, muss durch das Ehenichtigkeitsverfahren. Ich halte es aber für ein Vorurteil, dass dabei immer tief in die Intimsphäre von Paaren eingedrungen werde. Natürlich müssen die Sachverhalte zur Sprache kommen, die die Nichtigkeit einer Ehe begründen. Das sind heute in zunehmendem Maße psychische Probleme, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Aber das finde ich sachgerecht.
KNA: Kritiker werfen Papst Franziskus vor, mit einer Fußnote in seinem Schreiben «Amoris laetitia» wiederverheiratete Geschiedene in Einzelfällen zur Kommunion zuzulassen und damit das Kirchenrecht auszuhebeln.
Lüdicke: Das sehe ich gar nicht so. Nach dem Kirchenrecht dürfen Personen, «die in einer schweren Sünde unbußfertig verharren», nicht zu den Sakramenten zugelassen werden. Daran hat der Papst nichts geändert. Er lehnt es aber ab, wiederverheiratete Geschiedene regelmäßig als schwere Sünder zu verurteilen. Damit unterscheidet er sich von der Praxis seiner Vorgänger, nicht aber von der Lehre der Kirche über die Sünde.
KNA: Welchem Bereich des Kirchenrechts haben Sie sich am liebsten gewidmet?
Lüdicke: Als Ehemann und Familienvater habe ich mich besonders mit dem Eherecht beschäftigt. Und da ich schon seit über 45 Jahren an einem kirchlichen Ehegericht arbeite, war das Prozessrecht ein weiterer naheliegender Schwerpunkt.
KNA: Welchen Reformbedarf sehen Sie beim Kirchenrecht?
Lüdicke: Mit Blick auf die deutsche Kirche fehlt eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, für die schon die Würzburger Synode 1975 plädierte. Es fehlt eine Kontrolle kirchlicher Oberer nach rechtlichen Maßstäben. Zudem sehe ich dringenden Regelungsbedarf beim kirchlichen Strafrecht. Der Canon 1395, der meist auf die Fälle des sexuellen Missbrauchs angewendet wird, hat überhaupt nicht den Opferschutz im Blick, sondern die Disziplin des Klerus. Die Kirche muss über ihr Strafrecht und dessen Schutzgüter gründlich nachdenken.
Denn wenn Opfer wissen, dass das Kirchengericht ihre sexuelle Selbstbestimmung schützen will, erfahren sie sich in ihrer Verletztheit ernst genommen und vom Recht ihrer Kirche geschützt.
KNA: Sind Ihnen im Kirchenrecht auch kuriose Regelungen begegnet?
Lüdicke: Im alten Codex hat es einen Canon gegeben, wonach ein zum Chorgebet verpflichteter Kleriker als nicht anwesend betrachtet wurde, wenn er nicht vorschriftsmäßig gekleidet war. Mit der Folge, dass ihm die für das Chorgebet zustehenden Gelder verwehrt wurden. Im geltenden Codex ist eine Formulierung missraten: Laut Canon 1362 verjährt eine Strafklage in drei Jahren, außer es handele sich um Straftaten, «die der Glaubenskongregation vorbehalten sind». Gemeint sind natürlich nicht Straftaten der Kongregation, sondern solche, für die sie zuständig ist.