Im Koalitionsvertrag von Union und SPD heißt es: "Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn." Aber wie genau kann das aussehen? Der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust fordert im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) eine breite, gesellschaftliche Debatte.
KNA: Herr Aust, in Berlin gibt es bereits eine Reihe von Denkmälern für die Opfer des Nationalsozialismus. Tut da wirklich die Errichtung eines weiteren Erinnerungsortes für die Opfer des Vernichtungskrieges im Osten Europas not?
Aust: Wenn man sich die Gedenkstättenlandschaft anschaut, dann sieht man sehr schnell, dass es keinen Erinnerungsort für die polnischen und sowjetischen Opfer gibt. Diese Leerstelle gilt es zu füllen.
KNA: Welche inhaltlichen Argumente lassen sich dafür vorbringen?
Aust: Immer noch ist vielen das ganze Ausmaß der damals begangenen Verbrechen nicht bekannt. Hinzu kommt, dass wir uns in einem tiefgreifenden Wandel der Erinnerungskultur befinden: vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis.
KNA: Was heißt das?
Aust: Die unmittelbaren Zeitzeugen sterben aus. Es stellt sich also die Frage, wie man ohne sie an die Schrecken von damals erinnert und Lehren für Gegenwart und Zukunft zieht.
KNA: Wäre es aber nicht trotzdem wünschenswert, noch zu Lebzeiten der letzten Zeitzeugen einen weiteren Erinnerungsort in Berlin zu realisieren?
Aust: Wünschenswert ja, aber wir sollten die Diskussion über das Denkmal nicht unter einen solchen Erwartungsdruck stellen.
KNA: Bisher, so scheint es, hat die Debatte noch gar nicht richtig begonnen.
Aust: Was unter anderem daran liegt, dass es keine zentrale Instanz gibt, die ein Gesamterinnerungskonzept entwirft. Es bedarf Initiativen und eines vertieften politisch-gesellschaftlichen Gesprächs. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas geht auf eine 1988 ins Leben gerufene Initiative von Eberhard Jäckel und Lea Rosh zurück. Es bildete sich ein Förderkreis, der das Ansinnen auf die politische Agenda setzte. Das führte schließlich zu einem Bundestagsbeschluss zum Bau des Denkmals. Bei den Denkmälern für die Opfer unter Homosexuellen, den Sinti und Roma und der Euthanasiemorde lief das ähnlich ab.
KNA: Mit Blick auf die Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten Europas spricht sich die Koalition für einen "Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn" aus - bringt das die Dinge voran?
Aust: Langfristig und strategisch ist zu wünschen, dass die Erinnerungskultur in gute bilaterale und multilaterale Partnerschaften eingebunden ist. Aber für den Anfang dürfte das schwierig sein, weil zum Beispiel die offizielle russische Politik das sowjetische Heldentum im Zweiten Weltkrieg und weniger die Opfer und das Leid der Zivilbevölkerung hervorhebt. Da tun sich auch in den Ländern selbst Konflikte auf.
KNA: Inzwischen gibt es immerhin zwei Vorschläge. Historiker Peter Jahn will einen Gedenkort für alle Opfer der NS-Lebensraumpolitik; Florian Mausbach dagegen, ehemals Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, ein Denkmal allein für die polnischen Opfer.
Aust: Jahns Vorschlag stammt aus dem Jahr 2013, der von Mausbach von 2017. Ich habe den Appell von Mausbach mitgetragen, bin aber inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass es besser wäre, der Idee von Jahn zu folgen und einen Gedenkort für alle Opfer zu errichten.
KNA: Warum?
Aust: Weil wir andernfalls Gefahr laufen, eine Kaskade von Forderungen in Gang zu setzen. Schließlich werden dann beispielsweise auch Ukrainer und Weißrussen ein eigenes Denkmal haben wollen. Der Vorschlag von Jahn würde eine nationale Konkurrenz beim Erinnern vermeiden.
KNA: Aber?
Aust: Jahns Initiative kam kurz vor einer Zeit, als Russland im Westen und damit auch in Deutschland mit dem Krieg im Donbass und der Annexion der Krim massiv an Ansehen verlor. Mausbachs Initiative dagegen hätte den Charme, dass sie die angespannte Beziehung zwischen Deutschland und seinem direkten Nachbarn Polen verbessern könnte. Aber das alles müsste auf breiterer Ebene und sorgfältig diskutiert werden.
KNA: Was wäre ihr Wunsch?
Aust: Dass die Debatte endlich richtig in Gang kommt. Da können wir Historiker Material liefern und Vorschläge machen. Letzten Endes aber wäre es am Bundestag, darüber in einer Plenarsitzung zu befinden.
KNA: Gesetzt den Fall, es würde eines fernen Tages zu einem weiteren Ort der Erinnerung in Berlin kommen - wie müsste der Ihrer Meinung nach aussehen?
Aust: Zur konkreten Ausgestaltung will ich mich nicht jetzt schon festlegen. Wichtiger ist mir etwas anderes: Es ist nicht damit getan, ein weiteres Denkmal aufzustellen und dann zu glauben, man habe die Vergangenheit aufgearbeitet.
KNA: Sondern?
Aust: So wie bei dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas müsste ein Ort der Information und des Austauschs dazugehören, an dem Wechselausstellungen, Podiumsdiskussionen und Filmabende stattfinden.
KNA: Das klingt anspruchsvoll - und kostet Geld.
Aust: Man müsste einen Partner mit ins Boot holen. Die Stiftung Topographie des Terrors könnte das institutionell leisten.