Dogmatiker verteidigt Benedikt gegen Kritik von Rabbiner

"Vorwurf des Antisemitismus nicht gerechtfertigt"

Ein Rabbiner wirft Papst em. Benedikt XVI. vor, einen neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage zu fördern. Ist da etwas dran? Der Wiener Dogmatiker Prof. Jan-Heiner Tück geht der Sache auf den Grund.

Benedikt XVI. besucht Synagoge (2005 in Köln) (Erzbistum Köln)

DOMRADIO.DE: Der jüngste Text des emeritierten Papstes Benedikt XVI. zum Verhältnis von Judentum und Christentum stößt auf Kritik. Der Berliner Rabbiner Walter Homolka wirft Benedikt vor, "christliche Identität auf Kosten der jüdischen formuliert" zu haben. Sie sind Schriftleiter der Internationalen Katholischen Zeitschrift COMMUNIO, in der der Text des emeritierten Papstes erschienen ist. In dem Beitrag geht es um Fragen des jüdisch christlichen Dialogs. Auf den ersten Seiten seines Textes betont Benedikt mehrfach dass Christen und Juden ein heiliges Buch, das Alte Testament, gemeinsam als eine Grundlage ihres Glaubens verehren und dass der Glaube Abrahams auch der Glaube der Christen sei. Das ist doch ein klares Bekenntnis zum Judentum?

Univ.-Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Vizedekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Institut für Systematische Theologie und Ethik, Dogmatik und Dogmengeschichte): Ja, das würde ich auch so sehen. Im ersten Abschnitt des Textes geht Benedikt darauf ein, wie es überhaupt zur Trennung zwischen Judentum und Christentum gekommen ist. Und er nimmt Abstand von der lange geltenden These, dass das Judentum gewissermaßen die Mutter und das Christentum die entlaufene Tochter sei, und sagt: Es ist zunächst ein Gottesvolk, das sich nach der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. zu zwei Gemeinschaften ausdifferenziert. Einerseits, dem rabbinischen Judentum, andererseits dem Christentum, die jetzt beide Lesarten entwickeln, wie das Alte Testament zu verstehen ist. Und diese Lesarten sind bekanntlich konkurrierend. Also aus Geschwistern, die sich auseinandergelebt haben, werden Rivalen, ja partiell auch Feinde – und erst nach Nostra Aetate, also nach dem Zweiten Vatikanum, werden wieder neu freundschaftliche Beziehungen aufgenommen.

DOMRADIO.DE: Aber wenn sie von Geschwistern sprechen, dann haben beide Religionen, Christentum und Judentum, gemeinsame Eltern.

Tück: Ja, Benedikt betont sehr stark, dass beide die Schriften des Alten Testaments als heiliges Erbe bewahren. Er markiert hier auch noch einmal klar die Absage an Markion, jenen „Erzhäretiker“, der in der Alten Kirche versucht hat, das Alte Testament aus dem Kanon zu eliminieren. Interessant ist auch, dass Benedikt XVI. meines Erachtens die theologisch tiefste Deutung des Antisemitismus gegeben hat. Der Versuch, die Juden zu vernichten, sei letztlich der Versuch, den biblischen Gott aus dem Gedächtnis auszumerzen. Warum? Weil die Juden DIE Träger des Gottesgedächtnisses sind, weil sie die mosaische Ethik bewahren, die für jeden Egoismus anstößig ist. Und er greift hier auf das Wort des Propheten Sacharja zurück: "Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an."

DOMRADIO.DE: Nun sagt der Berliner Rabbiner Homolka, wer die Rolle des Judentums so beschreibe, wie Benedikt das in diesem Text tut, baue mit am Fundament für einen neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage. Wie kommt er zu dieser heftigen Kritik? Das was Sie eben erzählt und beschrieben haben, hört sich doch eher an, als wenn es sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum gibt.

Tück: Ich schätze Walter Homolka und kann verstehen, dass er als Akteur des jüdisch-christlichen Dialogs nach dem Dokument Dominus Iesus - aber auch nach der revidierten Karfreitagsfürbitte - mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet, was Benedikt über die Juden sagt. Aber der Vorwurf des Antisemitismus erscheint mir doch zu steil und, ehrlich gesagt, in der Sache auch nicht gerechtfertigt. Schon der Titel des Textes "Gnade und Berufung ohne Reue" zeigt klar, dass Benedikt die Treue Gottes zu seinen Verheißungen an Israel programmatisch betonen will. Darüber hinaus sagt Joseph Ratzinger, dass das Judentum für Christen eine besondere Stellung habe und nicht wie andere Religionen einzustufen sei – schon allein deshalb, weil es Besitzer der Heiligen Schrift ist. Und schließlich unterstreicht er mit Paulus, dass ganz Israel gerettet wird (vgl. Röm 11,26). Natürlich hält Ratzinger als Christ, Theologe und, wie man sagen muss, emeritierter Bischof von Rom, daran fest, dass die Dynamik der Heilsgeschichte in Jesus Christus ihre Aufgipfelung findet. An einer Stelle empfiehlt er die Emmausperikope als Modell für das Gespräch zwischen Juden und Christen. Also wie der Auferstandene die Jünger die Schrift neu zu lesen gelehrt hat, so sollten auch heute Christen versuchen, ihren jüdischen Gesprächspartnern ihre Hermeneutik nahezubringen. Und hier ist, glaube ich, der neuralgische Punkt berührt, die Christologie, die Juden und Christen bis heute trennt. Und damit steht die Frage im Raum, wie man trotz der Differenz in der Christologie als christlicher Theologe ein positives Verhältnis zum Judentum vertreten kann, das quasi das Judentum nicht auf eine Vorläuferrolle reduziert. Und dieser Verdacht steht, glaube ich, hinter der scharfen Bemerkung von Rabbiner Homolka.

DOMRADIO.DE: Gibt denn der Text Benedikts auf die Frage, wie Christen und Juden über ihr Verständnis von Christus sprechen können Anregungen?

Tück: Ich würde sagen, dass hier jetzt die theologisch differenzierte Diskussion beginnen muss. Benedikt problematisiert ja zwei Grundkonsense des heutigen jüdisch-christlichen Gesprächs: einerseits das Nein zur Substitutionslehre - die Substitutionslehre besagt, dass Israel seine heilsgeschichtliche Stellung eingebüßt hat, weil es den Messias verworfen hat, und die Kirche sei das neue Israel oder das neue Gottesvolk, welches das alte abgelöst oder substituiert, also ersetzt hat. Mit dem Nein zur Substitutionstheorie ist umgekehrt dann positiv auch das Ja zum ungekündigten Bund verbunden. Das besagt, Israel ist und bleibt der Träger der göttlichen Verheißungen.

Benedikt problematisiert jetzt diesen doppelten Konsens, nicht um ihn in Frage zu stellen, sondern um ihn theologisch zu vertiefen. Er sagt zum einen, die Frage Substitution "ja oder nein" ist differenzierter zu behandeln im Blick auf biblische Grundelemente wie den Tempelkult, die moralischen Weisungen, die Messiasfrage oder die Landverheißung. Und hier kommt man eben zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Kultgesetze zum Beispiel - Beschneidung, Speisevorschriften etc. – sind bekanntlich nicht übernommen worden. Die moralischen Weisungen, die sich in den zehn Geboten finden, sind aber sehr wohl in der jesuanischen Ethik affirmiert und bejaht worden.

Ich würde aber auch sagen, dass bei aller exegetischen Differenziertheit der Durchleuchtung dieser Grundelemente, am Ende etwas undeutlich bleibt, worin die bleibende heilsgeschichtliche Stellung des Judentums nach Christus besteht. Und das hätte meines Erachtens deutlicher zum Ausdruck gebracht werden müssen, um die Problematisierung des Grundkonsenses nicht in die Schieflage zu bringen, dass jetzt hier doch gewissermaßen eine Rolle rückwärts im Dialog zwischen Juden und Christen angestrebt wird. Also um es klar zu sagen: die wird nicht angestrebt. Aber es gibt vielleicht eine gewisse Leerstelle in der Beschreibung der positiven heilsgeschichtlichen Bedeutung des Judentums. Im Titel und auch zum Schluss wird das klar zum Ausdruck gebracht, aber im Text selbst sind allenfalls Spuren zu finden.

DOMRADIO.DE: Aus dem Text von Benedikt lässt sich auch eine Botschaft zur politischen Situation im Staat Israel herauslesen. Das sind bedeutende Aussagen, die Benedikt da zum politischen Messianismus trifft, oder?

Tück: Theodor Herzl und der Zionismus wollten den leidenden Juden eine neue Heimat geben. Durch die Shoah wurde dieses Anliegen noch dringlicher. Säkulare und religiöse Strömungen gehen im Zionismus ja zusammen. Die katholische Kirche hat allerdings eine theologisch verstandene Landnahme im Sinne eines politischen Messianismus immer abgelehnt. Der Staat Israel ist, so betont Benedikt, völkerrechtlich zu betrachten. Wie jedes andere Volk haben auch die Juden einen naturrechtlichen Anspruch auf ein Land. Man kann persönlich in der Gründung des Staates Israels ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk sehen, aber eine politische Theologie des Staates Israels lehnt Benedikt ab. Damit setzt er sich deutlich ab von Formen eines christlichen Zionismus, die mit der Rückführung der versprengten Juden eine geschichtstheologische Agenda verbinden und dadurch die Parusie Christi gewissermaßen beschleunigen wollen.

Literaturhinweis

Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz. Mit einem Geleitwort von Rabbiner Walter Homolka, Herder: Freiburg i. Br. 2. Aufl. 2016.


Prof. Jan-Heiner Tück (Uni Wien)

Rabbiner Walter Homolka / © Julian Stratenschulte (dpa)
Rabbiner Walter Homolka / © Julian Stratenschulte ( dpa )