In der zweiten Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 8. September 1948 in Bonn ergriff auch Adolf Süsterhenn das Wort: "Prüfet alles und behaltet das Beste." Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion rief seine Kolleginnen und Kollegen auf, die Entwürfe des Grundgesetzes sehr genau zu studieren.
Eine überaus kniffelige Aufgabe im Spannungsfeld alliierter und parteipolitischer Animositäten. Dennoch fanden die Beratungen ein gutes Ende: Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft, ein bis heute fast unverändert bestehendes staatsrechtliches Provisorium.
Ein Besatzungsstatut sollte her
Zuvor hatten die Westalllierten in den "Frankfurter Dokumenten" präzise Aufträge an die Ministerpräsidenten formuliert: Sie sollten eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, die Grenzen der bestehenden Länder überprüfen und bei Bedarf neue Grenzziehungen vorschlagen. Den Alliierten schwebte zudem ein Besatzungsstatut vor, das die Kontrolle über bestimmte Aspekte der deutschen Innen- und Außenpolitik regelte.
Die Ministerpräsidenten kommentierten die Forderungen zunächst nicht. Man müsse sich beraten, hieß es. Das taten sie vom 8. bis 10. Juli im Hotel Rittersturz bei Koblenz. Dort erörterte die Runde die Konsequenzen des Auftrags, der in Teilen aus ihrer Sicht schlicht unmöglich war, etwa das Besatzungsstatut mit einer Verfassung der Souveränität in Einklang zu bringen. Mit ihrer Antwortnote an die Gouverneure landeten sie einen Paukenschlag.
Grundgesetz statt Verfassung
Die Länderchefs betonten, an einer Verfassung mitzuwirken, die aber nicht so heißen dürfe. Denn, so ihre Befürchtung, eine endgültige Verfassung besiegele die deutsche Teilung. Die Regierungschefs wollten ausdrücklich kein Gebilde schaffen, "das den Charakter eines Staates" habe.
Statt einer Verfassung sprachen sie sich für ein Grundgesetz aus, das solange ein Provisorium bleiben müsse, bis "eine gesamtdeutsche Regelung und die Wiederherstellung der deutschen Souveränität" Realität würden. Oder, wie der stellvertretende Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern und Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, Carlo Schmid (SPD), erklärte: Es gehe nicht um "die Verfassung für einen Staat in Westdeutschland", sondern lediglich um "ein Organisationsstatut für ein die drei Zonen umfassendes Verwaltungsgebiet Westdeutschland".
Nur ein Provisorium
In Sachen Besatzungsstatut nahmen die Deutschen eine komplett ablehnende Haltung ein: Aus ihrer Sicht wäre eine solche Regelung mit einer freiheitlichen Verfassung und der Gründung eines neuen, unabhängigen Staates unvereinbar.
US-General Lucius D. Clay wollte von solchen Einwänden indes nichts wissen. Er schäumte und stellte kurzzeitig die gesamte Staatsgründung infrage. Doch in mehreren Gesprächen fanden sich akzeptable Lösungen, die Alliierten wie auch die Ministerpräsidenten mussten zähneknirschend einige ihrer zunächst als "unverhandelbar" deklarierten Positionen räumen.
Die Grundforderung der Alliierten, dass das neue Gebilde ein rechtsfähiger "Staat" und nicht nur ein "Verwaltungsgebiet" sein müsse, wurde von den Deutschen akzeptiert. Jedoch beharrten sie darauf, dass der Provisoriumscharakter des neuen Staates unzweideutig zum Ausdruck kommen müsse.
Parlamentarsicher Rat ist keine Verfassungsgebenden Nationalversammlung
Entstehen sollte nun ein Grundgesetz, ergänzt um den Zusatz "Vorläufige Verfassung". Und anstelle einer Verfassungsgebenden Nationalversammlung riefen die Ministerpräsidenten einen Parlamentarischen Rat ein. Fast alle Protagonisten konnten sich für den nun eingeschlagen Weg erwärmen.
Denn, wie formulierte es Schmid: "Ein geeintes demokratisches Deutschland, das seinen Sitz im Rate der Völker hat, wird ein besserer Garant des Friedens und der Wohlfahrt Europas sein als ein Deutschland, das man angeschmiedet hält wie einen bissigen Kettenhund."
Die Arbeit geht los
Am 1. September vor 70 Jahren wurde der gewählte Parlamentarische Rat mit einem Festakt im Bonner Naturkundemuseum Koenig eröffnet. Seine Arbeit nahm er in der Aula der ehemaligen Pädagogischen Akademie auf – dem späteren Plenarsaal des Bundestages in Bonn.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Grundfragen zur Konstruktion des neuen Staates bereits geklärt. Das hatten elf hochrangige Experten und Ländervertreter im August 1948 im Alten Schloss auf der Herreninsel im Chiemsee getan. Das kurioserweise «Verfassungskonvent» genannte Gremium entwarf innerhalb von zwei Wochen die Richtlinien für das Grundgesetz eines "Bundes Deutscher Länder" auf föderalistischer und liberaler Grundlage.
Der Entwurf von Herrenchiemsee
Die Juristin Angela Bauer-Kirsch schreibt in ihrer Dissertation: "Auf dem Weg zur Entstehung des Grundgesetzes wirkte der Entwurf von Herrenchiemsee als Transmissionsriemen von Weimar nach Bonn." Der Verfassungskonvent habe die Weimarer Reichsverfassung gefiltert und an ihren Errungenschaften festgehalten. Aber: "Er vollzog eine strikte Abkehr von Weimar dort, wo er glaubte, die folgenschweren Konstruktionsfehler der Reichsverfassung erkannt zu haben."
Die Menschen- und Bürgerrechte sowie das Parlament bekamen eine starke Stellung, die Fünf-Prozent-Klausel für den Einzug in den Bundestag sollte eine zu starke Zersplitterung der Parteienlandschaft verhindern. Die Macht des Staatsoberhauptes wurde beschnitten, Plebiszite vermieden, die Auflösung des Bundestags erschwert, das Verbot verfassungsfeindlicher Parteien ermöglicht.
Der Buchautor Michael F. Feldkamp urteilt: "Das Grundgesetz entsprang keinem Diktat der Westalliierten." In der Gemengelage zwischen politischem Druck aus der Sowjetunion und der notwendig gewordenen Gründung eines deutschen Weststaates mit der Option, jederzeit die baldige Wiedervereinigung zu erlangen, sei die Verfassungsarbeit eine herausragende Entscheidung gewesen.