Mit seiner Äußerung stoße Seehofer "Millionen von Zugewanderten vor den Kopf, die in unserem Land leben und ohne die Deutschland jetzt und auch in Zukunft nicht auskommt", sagte der Präsident des evangelischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Lilie, am Donnerstag in Berlin.
Die Aufgabe von "Vater Staat" sei es, "für das plurale Miteinander politische Konzepte zu entwickeln", statt die Migration als "Mutter aller Probleme" zu beklagen, sagte Lilie weiter. "Wir müssen heute gemeinsam ein Land gestalten, das vielfältiger, älter, digitaler und damit auch ungleicher wird." Dazu sollte die Bundesregierung Ideen liefern, forderte der Diakonie-Präsident.
Nach den Vorfällen in Chemnitz hat Bundesinnenminister Horst Seehofer Medienberichten zufolge am Mittwoch am Rande einer Klausurtagung der CSU-Landesgruppe im brandenburgischen Neuhardenberg Verständnis für die Demonstranten in Sachsen gezeigt. Wie die "Welt" unter Berufung auf Teilnehmerkreise berichtet, sagte der CSU-Vorsitzende, er habe Verständnis, wenn sich Leute empören, das mache sie noch lange nicht zu Nazis. Zudem sprach er demnach von der Migration als "Mutter aller Probleme", wie die "Welt" und die "Bild" berichten.
Rekowski: Einwanderer nicht zu Sündenböcken machen
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) davor gewarnt, Einwanderer zu Sündenböcken für politische Probleme zu machen. "Politiker sollten die gesellschaftliche Situation gründlich wahrnehmen und darauf reagieren", sagte Rekowski dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Donnerstag in Düsseldorf. "Dabei wäre dann wohl selbstkritisch zu fragen, ob nicht eine unzureichende und bisweilen ungerechte Gesellschafts- und Sozialpolitik Kern der politischen Probleme ist."
Eine Suche nach Sündenböcken sei dagegen "gänzlich untauglich", unterstrich der Theologe, der Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Bei der Migrationsfrage gehe es um Menschen und nicht um ein abstraktes Problem.
Merkel: "Ich sage das anders"
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) reagierte ausweichend auf diese Äußerungen von Bundesinnenminister Horst Seehofer. "Ich sage das anders. Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen", sagte Merkel am Donnerstag dem Fernsehsender RTL. Dabei gebe es "auch Probleme, dabei gibt es auch Erfolge".
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, sagte der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" (Freitag): "Ohne Migration wäre unser Land nicht so erfolgreich, wie es heute ist." Deutschland brauche auch künftig Zuwanderung. Die Herausforderungen der Migration müssten entschlossen angepackt werden.
SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles sagte: "Wenn Horst Seehofer von der Mutter aller Probleme spricht, meint er in Wahrheit Frau Merkel." Die CSU heize den unionsinternen Streit des Sommers wieder an. Für die SPD sei klar: "Die Mutter aller Lösungen ist der soziale Zusammenhalt aller Menschen in unserem Land", sagte Nahles.
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, fragte, ob Seehofer mit seinen Äußerungen tatsächlich meine, dass fast 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund im Land das Problem seien. "Das Problem ist aber nicht Migration, sondern das Problem heißt Rassismus", sagte Sofuoglu. Der Innenminister rede "völkisch-nationalen Kräften nach dem Mund".
Zustimmung bekam Seehofer dagegen aus der AfD und auch aus den Reihen der Unionsfraktion im Bundestag. Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor sagte der "Passauer Neuen Presse" (Freitag): "Bei der aktuellen Kritik an Horst Seehofer handelt es sich um scheinheilige und peinliche Empörungsrhetorik." Selbstverständlich habe der Innenminister Recht, wenn er feststelle, dass viele Menschen ihre Sorgen um soziale Sicherheit oder um die Funktionsfähigkeit unseres Staates mit der Migrationsfrage verbänden.
Kirchen: Fremdenfeindliche Attacken aufklären
Die beiden Kirchen im Nordosten Deutschlands haben am Dienstagabend nachdrücklich zum Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus aufgerufen. Das betonten beide Vertreter bei einem Empfang in Schwerin, zu dem 2440 Gäste aus Politik und Gesellschaft geladen waren.
Religionsvertreter hatten sich am Sonntag angesichts von Hass und Gewalt in Chemnitz besorgt geäußert. Der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Stefan Vesper, nannte die Ereignisse "erschreckend und bestürzend". (KNA)