DOMRADIO.DE: Welche Quellen liegen dem Artikel im NRC Handelsblad zugrunde?
Jan Hendrik Stens (Theologie-Redaktion): Den Angaben liegt unter anderem ein von der Kirche in den Niederlanden in Auftrag gegebener Bericht aus dem Jahr 2011 zugrunde. Dazu kommen Aussagen von Betroffenen vor einer Untersuchungskommission und eigene Recherchen. Laut der Studie sollen in diesem Zeitraum von 65 Jahren, also zwischen 1945 und 2010, bis zu 20.000 Minderjährige von etwa 800 kirchlichen Mitarbeitern – hier sind Kleriker wie Laien gleichermaßen gemeint – sexuell missbraucht worden sein.
DOMRADIO.DE: Wie groß ist denn die katholische Kirche in den Niederlanden?
Stens: Die Niederlande gehören zu den am stärksten säkularisierten Staaten Mittel- und Westeuropas. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist konfessionslos. Dennoch ist das Christentum noch die größte Religion und die römisch-katholische Kirche mit etwas mehr als 20 Prozent der Bevölkerung die größte christliche Konfession.
Katholisch geprägt ist vor allem der Süden der Niederlande, der Norden dagegen protestantisch-reformiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat es einen sehr starken Trend der Entkirchlichung gegeben, vor allem im protestantischen Norden. Aber auch der Anteil der Katholiken hat sich seit 1970 fast halbiert. Heute leben noch knapp vier Millionen Katholiken in den Niederlanden, von denen etwas mehr als fünf Prozent sonntags in die Kirche gehen.
DOMRADIO.DE: Innerhalb des untersuchten Zeitraums von 65 Jahren waren 39 Bischöfe im Amt, von denen 20 der Vertuschung beschuldigt werden. Ist das nicht eine sehr hohe Zahl?
Stens: Das ist über die Hälfte der Bischöfe. Von diesen 20 Bischöfen werden vier sogar beschuldigt, sich selbst an Minderjährigen und Schutzbefohlenen vergangen zu haben. Allerdings ist keiner der Bischöfe mehr im Amt und viele von ihnen sind bereits verstorben.
DOMRADIO.DE: Welche bekannten Personen sind denn dabei und welche Vorwürfe werden gegen sie erhoben?
Stens: Unter den Bischöfen sind auch zwei bekannte Kardinäle, die beide Erzbischof von Utrecht waren. Da ist einmal Kardinal Alfrink, der mehrere Priester, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatten, trotz Warnungen immer wieder versetzt haben soll. Sein Nach-Nachfolger Kardinal Simonis soll nicht eingegriffen haben, als die Haushälterin eines Pfarrers über dessen Missbrauchstaten berichtete. Das Gegenteil geschah, die Haushälterin wurde entlassen.
Anfang der neunziger Jahre soll ein Pfarrer von Simonis ernannt worden sein, der ein Jahr zuvor wegen Missbrauchs verurteilt worden war. In einer niederländischen Talksendung hat der Kardinal 2010 seine Kenntnis über derartige Vorgänge mit den deutschen Worten "Wir haben es nicht gewusst" kommentiert. Kardinal Simonis wurde für dieses Zitat, das in den Niederlanden bezüglich des Mitwissens der Deutschen über den Holocaust verwendet wird, stark kritisiert.
DOMRADIO.DE: Lässt sich denn eine bestimmte kirchenpolitische Haltung bei den Beschuldigten erkennen, also zum Beispiel eine Art Wagenburgmentalität?
Stens: Interessant ist, dass die Studie keinerlei Rücksicht auf theologische oder kirchenpolitische Gesinnung der jeweiligen Bischöfe nimmt. Kardinal Alfrink galt als Lichtgestalt des liberalen Katholizismus in den Niederlanden und geriet dadurch in Konflikt mit Rom. Auch der emeritierte Bischof von Rotterdam, Adrianus Herman van Luyn, der als Mann der Mitte gilt und lange Jahre Vorsitzender der Niederländischen Bischofskonferenz war, wird beschuldigt. Er soll polizeiliche Ermittlungen behindert und auf Hilferufe von Betroffenen nicht reagiert haben.
Dann ist auch noch Joannes Gijsen, Bischof von Roermond, zu nennen. Er gehörte als Gegenspieler Alfrinks zum konservativen Flügel der katholischen Kirche in den Niederlanden. Ein Jahr nach seinem Tod 2013 wurde bekannt, dass Gijsen zwischen 1958 und 1961 zwei Jungen sexuell missbraucht hatte.
DOMRADIO.DE: Wenn sich so viele Bischöfe in den Niederlanden im Missbrauchsskandal schuldig gemacht haben, was kann das zum Beispiel für Deutschland bedeuten?
Stens: Möglicherweise war das Vertuschen auch bei deutschen Bischöfen erheblich weiter verbreitet als wir bislang glauben. Das permanente Versetzen und Hoffen, dass sich die jeweiligen Priester bei einem Tapetenwechsel schon irgendwie bessern werden, ist natürlich auch ein Ergebnis einer in den vergangenen Jahrzehnten weit verbreiteten Therapiegläubigkeit. Hinzu kommt eine Form der Wagenburgmentalität, dass die Kirche dieses Problem intern gelöst bekommt und gegenüber der Öffentlichkeit dicht macht. Den Schutz der Institution über den Schutz der Betroffenen zu stellen, da waren sich die Verantwortlichen bei aller theologischen und kirchenpolitischen Verschiedenheit wohl einig.
Das Interview führte Martin Mölder.