Es war wohl eines der schwärzesten Jahre in der jüngeren Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland. Ende Januar 2010 kam der Missbrauchsskandal ans Licht und stürzte Bischöfe, Priester und Laien in eine tiefe Vertrauenskrise. Der Skandal öffnete zugleich den Weg für eine neue innerkirchliche Dialogkultur und stieß eine Reformdebatte an. Die Wogen glätteten sich wieder - bis zur vergangenen Woche, als erste Ergebnisse der neuen Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz bekannt wurden.
2010 stand am Anfang ein Brief. Den schrieb Pater Klaus Mertes, damaliger Rektor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg, an 600 Ehemalige. Die Botschaft: Einige Patres des Ordens hätten in den 1970er und 80er Jahren Schüler sexuell missbraucht – und zwar systematisch und über Jahre. Der Brief, der am 28. Januar 2010 bekannt wurde, trat eine Lawine los: Der Skandal weitete sich auf andere Ordensschulen aus, er betraf auch evangelische Institutionen und weltliche Einrichtungen wie die Odenwaldschule, Sportvereine und auch die Grünen.
"Tiefste Fragen des Menschseins"
"Wie konnte solcher Missbrauch möglich sein – in einer Kirche, die für so hohe moralische Werte steht, die beansprucht, Antworten auf die tiefsten Fragen des Menschseins geben zu können?", fragte der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode. Die Fallhöhe ist tiefer als bei anderen Institutionen. Eine Quittung: 2010 kehrten so viele Katholiken der Kirche den Rücken wie lange nicht, nämlich 181.193. Jesuitenpater Friedhelm Mennekes machte massive Auswirkungen auf die Seelsorge aus. "Früher habe ich mich nett mit den Menschen unterhalten, heute wird man sofort als potenzieller Verführer der Kinder gesehen", sagte er.
Die Bischöfe reagierten mit einer Serie von Maßnahmen. Im März 2010 baten sie die Opfer um Entschuldigung. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wurde zum Missbrauchsbeauftragten ernannt, eine Hotline wurde eingerichtet. Im Sommer erließen die Bischöfe die Leitlinien für den Umgang mit den Tätern, die 2013 verschärft wurden. Darüber hinaus verabschiedeten sie ein Präventionskonzept.
Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens
Außerdem präsentierte die Bischofskonferenz als erste Institution ein Modell zur materiellen Anerkennung des Unrechts. Demnach können Opfer bis zu 5.000 Euro erhalten – für viele Kritiker eine zu geringe Summe. Bei der Herbstvollversammlung 2010 in Fulda startete der damalige Konferenzvorsitzende, Erzbischof Robert Zollitsch, zudem einen mehrjährigen "breiten Reflexionsprozess" von Bischöfen, Priestern und Laien. Es ging um eine kritische Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens, mögliche Reformfelder und Wege aus der Vertrauenskrise.
Viel Wert legte die Bischofskonferenz auch auf die wissenschaftliche Aufarbeitung. Reibungslos verlief ein erstes Forschungsprojekt: Eine vom Direktor des Essener Instituts für Forensische Psychiatrie, Norbert Leygraf, durchgeführte Studie kam 2012 zu dem Schluss, dass Priester, die Minderjährige missbrauchen, in den seltensten Fällen pädophil seien. Die Taten würden zumeist vor dem Hintergrund einer persönlichen Krise begangen.
Zensur und Aktenvernichtung
Alles andere als reibungslos verlief ein zweites, 2011 an den Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer vergebenes Forschungsprojekt: Es sollte durch Aktenstudien belastbare Zahlen zum Missbrauch erbringen, das Handeln der Täter analysieren und klären, wie sich die Kirche verhalten hat. Doch Anfang 2013 kündigten die Bischöfe die Zusammenarbeit auf. Das Vertrauensverhältnis zu Pfeiffer sei zerrüttet. Dieser sprach umgehend von Zensur und Aktenvernichtung.
2014 nahmen die Bischöfe dann einen zweiten Anlauf und vergaben das Forschungsprojekt an einen Verbund von sieben Wissenschaftlern um den forensischen Psychiater Harald Dreßing. Deren umfangreiche Untersuchungen sollen nun am Dienstag in Fulda vorgestellt werden.
Doch wurden erste Ergebnisse vorab durchgestochen: In den Akten von 1946 bis 2014 zählt die Studie demnach 3.677 überwiegend männliche Minderjährige als Betroffene sexuellen Missbrauchs. 1.670 Priester, Diakone und Ordensleute wurden als Beschuldigte aktenkundig, heißt es. Weitere Details folgen am Dienstag in Fulda.