Thüringer Pfarrer zum Stand der Deutschen Einheit

Großes Wunder mit Schattenseiten

Der Osten holt wirtschaftlich auf, trotzdem gibt es noch deutliche Unterschiede. So steht es im neuen Einheitsbericht der Bundesregierung. Der Thüringer Pfarrer Otto Stöber mahnt vor allem Lohngleichheit an, um Abwanderung zu verhindern.

Stand der Deutschen Einheit: Aufschwung, aber noch Unterschiede / © Michael Reichel (dpa)
Stand der Deutschen Einheit: Aufschwung, aber noch Unterschiede / © Michael Reichel ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie wurden vor 65 Jahren im Eichsfeld geboren und sind nahe der innerdeutschen Grenze aufgewachsen. Wie haben Sie diese Zeit der Teilung erlebt?

Otto Stöber (Pfarrer im Gemeindeverband St. Kilian Suhl mit Zella-Mehlis, Schleusingen und Oberhof in Thüringen): Wenn man als Kind in einem Gebiet geboren wird, wo hinter dem Dorf der Schlagbaum ist, dann ist das erstmal für ein Kind normal. Als ich dann 1986 das erste Mal zu einer Reise in die alten Bundesländer - also in den damaligen Westen - fahren durfte, merkt man plötzlich: Es könnte auch anders sein. Aber ich bin trotzdem wieder nach Hause gekommen, weil ich meinem Chef damals als Vikar in Eisenach versprochen hatte: "Ich komme wieder. Ich werde Sie nicht im Stich lassen und die Gemeindearbeit machen wir weiter".

DOMRADIO.DE: Und dieses Versprechen haben Sie eingehalten. Das Jahr 1989 bezeichnen Sie als prägendes Ereignis in Ihrem Leben. Damals waren Sie schon Priester. Was hat denn die Wende überhaupt für das Gemeindeleben bedeutet? 

Stöber: Ich bin 1982 geweiht worden, war fünf Jahre in Eisenach mit Sperrgebiet Gerstungen. Mit allen Härten, die ein Sperrgebiet hat - mit Passierscheinen, "Nicht-Reinkommen-Dürfen" und so weiter. Ich habe dann 1989 die Wende erlebt, mit den Montagsdemonstrationen und dann dem friedlichen Fall der Mauer. Wenn ich das meinen Schülern heute erkläre, können die kaum begreifen, dass mit Gebet und mit Kerzen auf der Straße etwas erreicht wurde. Und dass das Ganze friedlich ausging, ist für mich heute immer noch das große Wunder.

DOMRADIO.DE: Trotzdem wird auch immer mit gemischten Gefühlen auf diese Zeit zurückgeschaut. Was ist da Ihr Fazit? 

Stöber: Ich sage mal: Dort, wo die Sonne scheint und wo es Licht gibt, gibt es auch Schatten. Es gab Verlierer der Wende. Es gibt aber auch die Gewinner der Wende. Allein, wenn man auf die Möglichkeiten der Freiheit schaut. Wenn ich meine jugendlichen Schüler heute vor mir sitzen habe: Die erzählen mir von einer Sprachreise nach London. Die erzählen mir von einem Jahr in Neuseeland oder in Kanada.

Da kriege ich Glanz in die Augen, weil das zu unserer Zeit überhaupt nicht möglich war. Die Sprachen, die wir gelernt haben - Russisch und etwas Englisch - konnten ja kaum angewendet werden. Die Chancen, die Kinder und Jugendliche heute haben - darum kann ich sie einfach nur beneiden, aber im guten Sinne.

Klar gab es die Verlierer der Wende, als ganze Betriebe dichtgemacht wurden. Zum Teil auch, weil die Produktionsleistung so schwach war oder weil das Produkt nicht mehr gefragt war. Dann muss ich mich neu orientieren.

DOMRADIO.DE. Trotzdem, der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigt auch, dass sehr viel Unmut und Frust im Osten ist. Wenn man auf die letzten Wochen schaut, auf die Demonstrationen rechter Gruppen. Warum ist da so viel Frust? 

Stöber: Einer der Gründe ist sicher das Lohngefüge. Ich habe vor ein paar Tagen mit einem Brautpaar gesprochen, das jetzt in den alten Bundesländern wohnt, dort seine Ausbildung gemacht hat und in den neuen Bundesländern seine Familie besucht. Die sagen mir: Wenn ich das gleiche Geld, was ich dort bekomme, hier bekommen würde und die Wohnung hätte, wäre ich sofort wieder hier.

Solange das nicht einigermaßen geregelt ist, ist es einfach eine Sache der Wirtschaft und der Kalkulation, dass Leute gehen.

DOMRADIO.DE: Das heißt, was kann man machen, um diese Abwanderung zu verhindern?

Stöber: Angleichung ist das eine. Auf der anderen Seite muss es einfach die Möglichkeit für junge Familien geben, dass die hier in Lohn und Brot kommen. Dann haben sie auch eine Möglichkeit, hier zu bleiben.


Pfr. Otto Stöber / © Christian Bargel (privat)
Pfr. Otto Stöber / © Christian Bargel ( privat )
Quelle:
DR