Kommission soll das Aussterben ganzer Regionen untersuchen

Gleichwertiges Leben in der Stadt und auf dem Land

Wohnungsnot auf der einen, Häuserleerstand auf der anderen Seite. Manche Regionen drohen abgehängt zu werden. Eine Kommission soll verhindern, dass Deutschland auseinanderdriftet.

Aktivisten besetzen einen leerstehenden Wohnkomplex in Stuttgart / © Marijan Murat (dpa)
Aktivisten besetzen einen leerstehenden Wohnkomplex in Stuttgart / © Marijan Murat ( dpa )

"Ich bin selber auf dem Dorf geboren und aufgewachsen." Der aus dem ost-westfälischen Brakelsiek stammende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier weiß, was es bedeutet, "wenn Tankstelle, Geschäfte und Arztpraxen schließen und die Busse nicht mehr fahren". Immer noch leben zwei Drittel der Deutschen im ländlichen Raum. Hochglanzmagazine, die den Traum vom idyllischen Leben auf dem Land verkaufen, haben Erfolg. Die Realität allerdings sieht manchmal recht trostlos aus.

Diskrepanz zwischen Traum und Realität

Viele Dörfer leiden unter Bevölkerungsschwund, Überalterung und schwindender Infrastruktur. Leerstand auf der einen, knapper Wohnraum auf der anderen Seite: In den Ballungsgebieten steigen Mieten und Immobilienpreise rapide. Chancengleichheit? Gleichwertige Lebensverhältnisse?

"Die Kluft zwischen Boom-Regionen und abgehängten Räumen wächst zusehends", sagte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) am Mittwoch in Berlin. Ein Alarmsignal: Schließlich gehen Wahlforscher davon aus, dass es die sich abgehängt fühlenden Menschen auf dem Land waren, die wesentlich zum Wahlsieg von Donald Trump in den USA beigetragen haben.

Am Mittwoch nahm deshalb eine von der Bundesregierung beauftragte Kommission ihre Arbeit auf, die unter dem Titel "Gleichwertige Lebensverhältnisse" Vorschläge für eine Trendwende erarbeiten soll. "Wir werden das Land neu vermessen", kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) an, der zusammen mit Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) und Familienministerin Franziska Giffey (SPD) der Kommission vorsitzt.

Ergebnis der Kommission bis 2020

Es geht um Heimat. Es geht um flächendeckende Gesundheits- und Pflegeversorgung, ausreichend Lebensmittelgeschäfte, Busverbindungen, Schulen und Kultur, schnelles Internet, Digitalisierung, Unternehmens- und Behördenansiedlungen. Richtschnur der Kommission, so Seehofer, sollte eine echte Chance für jeden einzelnen auf Wohlstand, Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit, Sport und Infrastruktur sein - "egal, ob er in Gelsenkirchen, Prenzlau oder Hamburg wohnt". Ein Gesamtergebnis soll die Kommission bis Herbst 2020 vorlegen.

Ein Schwerpunkt bei dieser Mammutaufgabe bleibt die Förderung des Ostens, der "bis auf wenige Ausnahmen noch flächendeckend Strukturschwächen aufweist", heißt es im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, der am Mittwoch vorgestellt wurde. Doch geht die Aufgabe weit darüber hinaus: Der Präsident des Deutschen Städtetags, Markus Lewe (CDU), sprach am Mittwoch von "prekären Kommunen" - strukturschwachen Städten und Regionen überall in Deutschland, die wegen der Überlastung durch Sozialausgaben hoch verschuldet seien. Der Münsteraner Oberbürgermeister warnte vor einem "Strudel der Unzufriedenheit". Solche Kommunen könnten nicht in ihre Zukunft investieren. "Am Ende wird der Demokratie vorgeworfen, sie funktioniere nicht."

Dabei sind es nicht unbedingt die ländlichen Regionen, die auf der Verliererseite stehen. Das hat im Juli eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung am Beispiel der Region Westfalen-Lippe gezeigt: Dort gibt es entgegen dem Trend wirtschaftlich starke ländliche Räume, aus denen dennoch junge Menschen in die Städte abwandern. Und unmittelbar daneben liegen Großstädte im Ruhrgebiet, die deutlich gealtert sind und unter hoher Arbeitslosigkeit leiden.

Was sind gleichwertige Lebensverhältnisse?

Klären muss die Kommission auch, was unter gleichwertigen Lebensverhältnissen zu verstehen ist. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts, warnt davor, überall die gleichen Maßstäbe und Normen anzulegen. Wo nur noch wenige Personen lebten und junge Menschen abwanderten, lohne es sich nicht, überdimensionierte zentralisierte Abwasserentsorgungsanlagen zu betreiben, neue Straßen zu bauen oder den Linienverkehr aufrechtzuerhalten, so der Demografieexperte.

Vielmehr müssten alternative Versorgungskonzepte her - wie etwa mobile Arztpraxen, flexible Verkehrsmittel oder Fernschulen. "Wir müssen wohl ein paar 'heilige Kühe' schlachten - etwa die Mindestschülerzahlen, das Personenbeförderungsgesetz oder den Anschluss- und Benutzungszwang beim Abwasser", sagt er. Vielfalt ist gefragt.


Quelle:
KNA