Manche Historiker bezeichnen die 1950er Jahre als die Zeit der Kirchen in Deutschland. Beinahe die gesamte Bevölkerung war Mitglied. 1950 waren es 96 Prozent. Es war eine Zeit voller Gottesdienste und eine Zeit, in der sich auch der Ministrantendienst für Kinder und Jugendliche öffnete, die nicht unbedingt Priester werden wollten. Mädchen waren noch nicht zugelassen.
Einer der jungen Männer war damals Manfred Becker-Huberti. Der heute 73-Jährige Theologe erinnert sich an die vielen Jahre bei den Ministranten. Für ihn eine lehrreiche Zeit, in der er am Altar diente. Sechs Momente sind ihm besonders in Erinnerung geblieben.
1. Wenn achtjährige quirlige Jungs das würdevolle Schreiten lernen
Damals war Manfred Becker-Huberti acht Jahre alt. Ein Alter, in dem Toben und Klettern spannender sind, als gerades und würdevolles Gehen. Aber das ist bis heute in der Kirche angebracht. "Das mussten wir erst mal lernen", sagt der Theologe. Das Wort "Schreiten" kannten sie als Jungs noch nicht einmal. Doch der Kaplan hatte die Problematik wohl erkannt. Becker-Huberti erzählt, wie er eines Tages die Kirche abschloss, mit ihnen zum Altar ging und das Messbuch hervorholte und der Reihe nach jedem auf den Kopf legte. "Wir mussten dann, die Hände an der Hosennaht, durch den Altarraum schreiten," erinnert er sich. Funktionierte das nicht, sei das schwere Buch krachend auf den Boden oder die Füße gefallen. "Und dann hatten wir sehr bald heraus, wie man das macht: Schreiten, würdig einhergehen."
2. "Ich wette, du traust dich nicht...!" Die fiese Mutprobe im Knochenkeller
Doch, wenn es nicht gerade ums Schreiten ging, dann hatten die Jungs viel Unsinn im Kopf. Dazu zählten auch Mutproben. Man kennt sie von Regenwurm-Essen oder Sprüngen aus ungeahnten Höhen. Manfred Becker-Huberti und seine Mit-Messdienern haben ihren Mut im Totenkeller des Franziskanerklosters gemessen. Denn dort lagen die verstorbenen Ordensbrüder in Luken. Weil der Franziskanerorden arm ist, wurden diese mit Mörtel versiegelt und nicht mit festen Marmor-Steinen verschlossen. Bei Hochwasser drang dann das Wasser in den Keller und spülte jedes Mal von neuem den Mörtel weg und die Gebeine aus den Luken heraus.
"Wenn das Wasser wieder sank, dann war genau das der Zeitpunkt, wo die Messdiener ihre Mutprobe machen mussten." Dann mussten sich die Jungs im Dunkeln durch die Knochen den Weg an eine bestimmte Platz ertasten. "Das war nicht für jeden leicht."
3. Schädel vor der Tür
Die Franziskaner ließen den Keller nach jedem Hochwasser dann wieder aufräumen. Der Dreck musste raus, die Knochen mussten zurück an ihren Platz. "Aber das hatte die Leute wahrscheinlich nicht so sehr interessiert", erinnert sich Becker-Huberti. Denn eines Tages, als sie sich in der Sakristei in Frömmigkeit übten, sei eine alte Dame in die Kirche gestürmt und rief, warum denn vor der Tür ein Totenschädel und Knochen liegen würden. Da hatte der Aufräumdienst einige Knochen mit dem Dreck der Überschwemmung weggeschmissen. "Und der arme Küster musste schnellstens nach draußen und die ganzen Knochen wieder sortieren und einsammeln, damit sie wieder in ihre Gräber hineinkamen." Mit dem frömmigen Blick war es dann vorbei. Für Manfred Becker-Huberti war dies ein lustiger Moment.
4. Schabernack mit dem Weihrauch
Das einfache Weihrauchschwenken war Manfred Becker-Huberti und den anderen Ministranten in seiner Gemeinde oft nicht genug. "Wer ein gewitzter Messdiener ist, dem reicht der Qualm alleine nicht. Denn er muss damit auch noch was bewirken können."
Eine Methode sei es gewesen, das Weihrauchfass ordentlich unter Dampf zu setzen. Der Messdiener habe sich so gestellt, dass dieser Dampf möglichst in die Gemeinde hineinzieht. "Wir wetteten im Vorhinein, wer denn die erste Oma in der Kirche umlegt."
Manchmal hätten die Jugendlichen aber auch ein Büschel Haare in das lodernde heilige Räucherwerk gelegt. "Das stinkt bestialisch. Dann fällt man nicht des Qualms wegen um, sondern des Gestanks wegen."
Ebenfalls zum Sport hätten es sich die Jungs gemacht, als erster den Chorraum der Kirche so zu vernebeln, dass man von den Bänken den Hochaltar nicht mehr erkennen konnte.
5. Wer mit dem Geld in der Kirche posiert...
Manfred-Becker Huberti erinnert sich noch gut an die Gottesdienste am Sonntag, zu dem die High-Society der Gemeinde kam. Einer der Besucher hätte vor der Kollekte immer eine Geste vollzogen, die der Küster unangemessen gefunden hätte. "Der holte nämlich einen dicken Hunderter aus seiner Tasche raus und hielt ihn gegen das Licht, zog ihn glatt und sorgte dafür, dass jeder sah, was er gleich in den Klingelbeutel legen werde."
Doch Becker-Huberti erinnert sich, dass er diesen niemals in das Körbchen warf. Sondern nur eine Mark. "Und genau in dem Augenblick zog der Küster seine Bratpfanne weg und brüllte laut: 'Ihr Groschen ist gefallen.'" Der Theologe und Professor weiß noch, dass dieser Besucher dieses "Schauspiel" kein weiteres Mal mehr probierte.
6. Die Rache am Domdiakon
Als nicht so besonders freundlich hat Becker-Huberti den damaligen Domdiakon im Gedächnis. "Der hatte es sich mit den Messdienern verdorben. Er hat sie immer gegängelt und geärgert", berichtet er. Zum seinem Abschieds-Gottesdienst hätte sich der Nachwuchs gerächt. Doch wie? Sie haben nämlich nicht nur die Kohle heiß gemacht, sondern auch das Fass. "Er verbrannte sich natürlich saumäßig die Finger, schrie laut auf und ließ das ganze Fass fallen. Damit war für ihn der Gottesdienst zu Ende." Für die Messdiener hätte es eine Abreibung gegeben, aber ihre Rache hätten sie gehabt.
Also rückblickend resümiert Manfred Becker-Huberti: "Messdiener sind nicht nur Engel."