DOMRADIO.DE: Wie oft schauen Sie denn am Tag auf Ihr Smartphone?
Msgr. Prof. Peter Schallenberg (Katholischer Moraltheologe und christlicher Sozialwissenschaftler von der Theologischen Fakultät Paderborn): Das ist eine gute Frage. Sehr häufig. Das ist eigentlich das Hauptmedium, muss ich sagen, für Kommunikation, Nachrichten, Kontaktaufnahmen und Verabredungen und auch um Informationen schnell zu bekommen. Also, unzählige Male. Sicherlich einmal pro halbe Stunde bestimmt.
DOMRADIO.DE: Und sind Sie in den sozialen Netzwerken auch unterwegs?
Schallenberg: Eigentlich gar nicht.
DOMRADIO.DE: Warum nicht?
Schallenberg: Aus Bequemlichkeit. Ich lese sehr gerne und lese viel. Ich muss ja auch viel lesen und viele Vorträge und Texte vorbereiten und dann natürlich auch noch beten und das geistige Leben nicht vernachlässigen. Wenn ich mich jetzt noch zusätzlich in den Sozialen Medien verlieren würde, würde das den Zeitrahmen vollends sprengen.
Das ist sozusagen ein Kompromiss, dass ich im Smartphone unterwegs bin und ganz wenig im Internet und ansonsten versuche zu lesen - also auch Tageszeitung zu lesen und nicht nur Bücher. Das ist ohnehin wenig genug.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist immer öfter von der digitalen Kulturrevolution die Rede. Ein ganz großes, starkes Wort. Was bedeutet das konkret?
Schallenberg: Ich glaube das, was wir Digitalisierung nennen, ist im Grunde der Versuch, auf eine technische Weise durch Algorithmen, durch eine bestimmte Zahlendarstellungsweise Wirklichkeit zu "ent-klomplexisieren", also Komplexität zu reduzieren und damit in bestimmte Kanäle der Brauchbarkeit zu bringen.
Nachrichten werden aufbereitet, Pflege wird aufbereitet, Arbeitsvorgänge werden vorstrukturiert. Autofahren wird soweit vorstrukturiert, dass es möglicherweise ganz autonom geschehen kann. Das ist eine Vielzahl von Beispielen. Bei der Digitalisierung, wie wir sie nennen, wird mithilfe von vorgestanzten Algorithmen Komplexität und Realität reduziert und in bestimmte Bahnen gelenkt. Das bedeutet schon in gewisser Weise eine Revolution, weil uns als Individuen sehr viele Entscheidungen vor-abgenommen werden.
Zum Beispiel beim Autofahren und dem Bereich des autonomen Fahrens. Nach welchen Maßstäben wird das, was wir bisher zufällig der intuitiven Entscheidung des Fahrers oder der Fahrerin überlassen haben, einem Fußgänger auszuweichen, um selbst möglicherweise dabei vor der Mauer zu landen und schwer verletzt zu werden oder einer größeren Gruppe auszuweichen und in eine kleinere Gruppe zu fahren - um das jetzt einmal in einem relativ rauen Szenario darzustellen - jetzt vor-entschieden?
Oder es wird vor-entschieden, dass bestimmte Informationen, medizinische Daten von einem Menschen an die Krankenkasse gegeben werden. Aber wer entscheidet das vor? Kann ich da meine Zustimmung geben? Muss ich die ständig erneuern? Kann ich die widerrufen?
Nebenbei bemerkt kann man auch an das Feld Organspende, was im Augenblick sehr diskutiert wird, was am Rande auch mit der Digitalisierung zu tun hat, denken. Reicht es, einmal einer Widerspruchslösung zugestimmt zu haben? Muss das immer erneuert werden? Soll das im Pass eingetragen werden?
Es werden uns Entscheidungen aus der Hand genommen. Das ist, glaube ich, notwendig angesichts einer immer komplexer werdenden Welt und ist auch hilfreich angesichts der unendlich vielen Möglichkeiten die wir im technischen Bereich haben. Aber es führt natürlich zu einer gewissen Form der Entmündigung und auch zu einer Anonymisierung von Entscheidungen und Vorgängen, die der Einzelne entweder nicht mehr im Auge hat oder von der er auch gar nicht weiß, dass das für ihn schon entschieden worden ist.
DOMRADIO.DE: Ist diese digitale Kulturrevolution eigentlich für unsere Demokratie gefährlich? Was meinen Sie?
Schallenberg: Gefährlich würde ich vielleicht für ein bisschen zu stark halten. Aber sie verändert zumindest ein bisher gewohntes demokratisches Miteinander. Das heißt, sie anonymisiert.
Man sieht das zum Beispiel im Netz. Die Zahl von Aggressionen, Beschimpfungen und von Fake-News, aber auch von Polemik und Aggression nimmt zu, wie Experten bestätigen. Das liegt sicherlich daran, dass die gewohnte Demonstration auf der Straße, die wir seit der Französischen Revolution kennen, jetzt mehr und mehr in anonyme Netze und in einen Bereich von anonymer Beschimpfung verlagert wird. Da kann sich der alte "Kain", den wir in uns tragen, sehr viel besser austoben, wahrscheinlich noch besser als in einer großen Menge auf der Straße. Insofern verändert sich doch etwas.
Wir haben darüber kürzlich auch in einem Kreis von Moraltheologen nachgedacht. Verändert sich etwas in unserem Umgang miteinander? Je weniger wir das Angesicht dessen sehen, der im Straßengraben liegt, desto leichter sind wir geneigt, denjenigen wie eine Nummer zu behandeln. Dann haben wir natürlich kaum noch eine Möglichkeit, persönliche Verantwortung wahrzunehmen.
DOMRADIO.DE: Auf der anderen Seite könnte man sagen: "Das ist weit weg. Ich les das ja nur, ich muss das gar nicht an mich heran lassen. Das war früher vielleicht anders. Wenn man mir ins Gesicht gesagt hat, ich sei ein "Doofkopf", dann gab es eine Schlägerei."
Schallenberg: Das könnte man auch sagen. Das stimmt. Aber die Verbreitung von Aggressionen war natürlich früher sehr viel weniger der Fall als heute. Das spielt auch eine interessante Rolle bei der Frage, wie sich unsere Demokratie, wie sich Kirche verändert.
Wir haben letzte Woche noch in Rom in einem Kreis von Leuten darüber nachgedacht, ob es eigentlich in Zukunft noch die Synoden in der gewohnten Weise geben wird, wie es sie rührenderweise seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gegeben hat. Im Grunde sind die Synoden inzwischen ja wie ein erratischer Fels, in der Brandung der Digitalisierung stehend. Das heißt, jeder weiß sofort von jedem. Jeder weiß, was für eine Meinung der eine und der andere äußert. Und dass man sich sozusagen in altfränkischer Weise vier Wochen versammelt, um morgens Vorträge zu hören und nachmittags in Sprachgruppen zu tagen, ist im Grunde ja Steinzeit.
Wie verändert sich das demokratische Miteinander? Das gilt für alle möglichen Formen von menschlicher Begegnung oder auch menschlicher Beratung, die frei flottierend in einem Netz stattfindet.
DOMRADIO.DE: Noch müssen die Kardinäle vor dem Konklave ihre Handys abgeben.
Schallenberg: Zum Beispiel.
DOMRADIO.DE: Wie ist denn die Position der katholischen Soziallehre zu dieser digitalen Kulturrevolution? Bei Soziallehre denkt man eher an Einsatz für die Armen, für die Benachteiligten.
Schallenberg: Da kommt es auch ganz grundsätzlich her. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Uber beispielsweise sind da zu nennen, aber auch "Crowdworking", also Scheinselbständige, die bisher durch keinerlei Arbeitsschutzgesetzgebung geschützt sind, die nicht gewerkschaftlich organisiert sein können, die oftmals für einen Hungerlohn arbeiten und auf eine "neo-manchesterartige" Weise ausgebeutet werden. So kann man es nochmal etwas stilisiert auf den Punkt bringen.
Das ist sozusagen das erste Einsatzfeld der Sozialethik vor ein paar Jahren gewesen, als es um die ethischen Perspektiven der Digitalisierung ging.
Dann kommt natürlich hinzu, wo die Digitalisierung und digitale Arbeitszustände eine große Rolle spielen: im Bereich der Pflege, im Bereich der Altenpflege besonders unter dem Stichwort Pflegeroboter. Was passiert, wenn Menschen in den basalen Funktionen von Robotern verseucht werden? Das ist natürlich viel einfacher als für menschliche Pflegekräfte. Anonymisiert das die Pflege? Anonymisiert das den Pflegebereich? Können Roboter trösten? Können sie beistehen? Das sind wichtige Fragen.
Das Interview führte Martin Mölder.