Deutsche Richterin sieht Menschenrechte in Europa teils gefährdet

"Menschenrechte offen in Frage gestellt - das war lange tabu"

Seit 20 Jahren wacht der Europäische Gerichtshof über die grundlegenden Freiheiten der Bürger. Richterin Angelika Nußberger beschreibt die Leistungen des Gerichts. Sie sieht zugleich aber auch das europäische Wertesystem in Gefahr.

 (DR)

KNA: Frau Professorin Nußberger, wofür steht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte? Was sind seine zentralen Erfolge?

Angelika Nußberger (Deutsche Vizegerichtspräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR): Der Straßburger Gerichtshof hat auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention in den heute 47 Mitgliedstaaten des Europarats ein umfassendes System zum Schutz der Menschenrechte geschaffen.

Ausgehend von nur wenigen Rechten wie der Freiheitsgarantie, dem Schutz des Eigentums, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder dem Folterverbot haben die Gerichtsentscheidungen zu einzelnen Fragen die europäischen Gesellschaften durchdrungen und zu wichtigen Rechtsreformen in allen Ländern geführt; etwa im Prozessrecht, um europaweit faire Verfahren zu garantieren.

Es wurde geklärt, welche Rechte Strafgefangene haben oder wie die Benachteiligung von unehelichen Kindern beseitigt werden kann. Auch Standards im Umgang mit Flüchtlingen gehören dazu. Das ist aus meiner Sicht die kaum zu überschätzende Leistung des Gerichtshofs.

KNA: Die Urteile sind völkerrechtlich bindend. Aber zugleich gibt es kaum Mittel, um ihre Umsetzung in den Einzelstaaten zu garantieren.

Nußberger: Ja, das System ist von Kooperation abhängig. Und in der Tat sehen wir derzeit in verschiedenen Staaten erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Urteile. Russland beispielsweise setzt Urteile zu Transnistrien grundsätzlich nicht um. Die Ukraine verweist auf finanzielle Probleme, Entschädigungen aufzubringen. Die Schweizer stimmen am 25. November über ein Referendum ab, das Landesrecht über das Völkerrecht stellen will.

KNA: Wie gefährlich sind solche Entwicklungen?

Nußberger: Es gab eine lange Phase der europaweiten Akzeptanz für die Menschenrechtskonvention und den Gerichtshof. Jetzt scheint eine neue Phase begonnen zu haben, in der nicht mehr tabu ist, was zuvor tabu war. Es gibt in verschiedenen Staaten Parteien, die offen dafür eintreten, die Menschenrechte nicht mehr jederzeit für jeden zu gewähren. Das gab es noch vor wenigen Jahren nicht. Und das widerspricht den fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaats.

KNA: Welche Länder meinen Sie?

Nußberger: Es gibt keinen Staat, der nicht irgendwie anfällig wäre für derartige Entwicklungen; aber es gibt auch besondere "Sorgenkinder". Die Entwicklungen in der Türkei haben dazu geführt, dass dort sehr viele ihre grundlegenden Menschenrechte verletzt sehen. Tausende haben sich an uns gewandt. Allerdings können wir die meisten Fälle nicht sofort prüfen, weil unser System darauf beruht, dass die Menschen erst vor Ort die Gerichte anrufen.Auch die Rechtsreformen in Polen bedeuten gewaltige Umbrüche. Von dort könnten künftig Klagen bei uns landen.

KNA: Wäre es für Sie wünschenswert und denkbar, das Modell des EGMR über die Europaratsstaaten hinaus auszuweiten - etwa zu einer Art Weltgerichtshof?

Nußberger: Überlegungen zu einem weltweiten Menschenrechtsgerichtshof sind allenfalls akademischer Natur. Allerdings wirkt unser europäisches Modell inspirierend. Experten aus allen Weltregionen kommen nach Straßburg, um zu lernen, wie wir den Grundrechtsschutz anpacken. Derzeit gibt es insbesondere in Asien Überlegungen, ein eigenes System des Menschenrechtsschutzes zu etablieren. Vielfältige Kontakte bestehen nach Afrika oder zum interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dass derzeit die Vorbehalte gegen den EGMR wachsen, trifft auf Unverständnis. Aus der Außenperspektive ist nicht nachzuvollziehen, warum das Erreichte in Frage gestellt wird.

KNA: Auch im Zusammenhang mit dem Brexit wurde laut über einen Rückzug Großbritanniens aus der Menschenrechtskonvention nachgedacht.

Nußberger: Insbesondere von Theresa May gab es eine solche Forderung. Wahrscheinlich wären nicht wenige in Großbritannien lieber aus der Menschenrechtskonvention ausgestiegen als aus der EU - wobei fraglich ist, ob das möglich wäre. Aber im Moment ist diese Diskussion eher leise geworden. Man merkt, zu welchen Umbrüche ein EU-Austritt führt, sodass nicht noch zusätzlich ein zweites System in Frage gestellt wird. Aber ausschließen kann ich nicht, dass das Thema noch einmal zurück auf die Agenda kommt.

KNA: Nach Deutschland: Noch vor einigen Jahren knirschte es zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EGMR gewaltig - etwa bei den Straßburger Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung. Wie sehen Sie das Verhältnis der beiden Gerichte heute?

Nußberger: Die Aufgabe des EGMR ist grundsätzlich, kontrollierend einzugreifen, wenn im nationalen System etwas schief läuft. Und dies hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, etwa bei den Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung. Die Idee ist ja, dass Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg am gleichen Strang ziehen, um einen hohen Menschenrechtsstandard zu gewährleisten.

Inzwischen richtet das Bundesverfassungsgericht bei seinen Entscheidungen systematisch den Blick auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Das war etwa beim NPD-Verbotsverfahren sehr deutlich. Insofern könnte man von einer vorauseilenden Harmonisierung zwischen Karlsruhe und Straßburg sprechen.

KNA: Oder gar von vorauseilendem Gehorsam?

Nußberger: Nein! Eher von einer vorauseilenden Rücksichtnahme.

KNA: Sehen Sie unterschiedliche Akzente bei europäischen und deutschen Entscheidungen zur Religionsfreiheit?

Nußberger: Die Religionsfreiheit ist sehr häufig ein Konfliktpunkt, nicht nur in Deutschland. Gerade weil es sehr viele unterschiedliche religiöse Traditionen und Kulturen gibt - von streng säkular bis sehr religiös. Was beispielsweise religiöse Bekleidungen wie das Kopftuch angeht, entscheidet Straßburg eher zurückhaltend und räumt den einzelnen Staaten erhebliche Ermessensspielräume ein.

KNA: Und beim kirchlichen Arbeitsrecht? Zuletzt verurteilte das Bundesarbeitsgericht die evangelische Kirche wegen Diskriminierung einer Frau, die eine Stelle nicht erhielt, weil sie nicht der Kirche angehört.

Nußberger: Der EGMR hat bereits ähnliche Fälle entschieden, hat bisher aber vor allem das Verfahren in den Blick genommen und darauf Wert gelegt, dass die Rechte aller angemessen Berücksichtigung finden. Die Nähe eines Arbeitnehmers zum Verkündungsauftrag zählt aber auch für den EGMR besonders.

KNA: Wie sehen Sie aus europäischer Sicht die deutschen Diskussionen um Sterbehilfe oder die Forderung sterbewilliger Bürger, Zugang zu tödlichen Medikamenten zu bekommen?

Nußberger: Auch hier ist das europäische Bild sehr uneinheitlich: von sehr liberalen Auffassungen in der Schweiz oder in Belgien bis zu der bisher sehr restriktiven Haltung in Deutschland. In diesen letzten Fragen kann es aus meiner Sicht oft kein allgemeinverbindliches "Richtig" oder "Falsch" geben. Entscheidend ist immer die sorgfältige Einzelfallabwägung der Positionen aller Beteiligten.

KNA: Sehen Sie diese Ermessensspielräume auch bei Entscheidungen in Asylfragen?

Nußberger: Wenn es um das Recht auf Leben und das Folterverbot geht, dann gibt es keine nationalen Ermessensspielräume.

KNA: Werden Ihre Entscheidungen in der aufgeheizten Flüchtlingsdebatte wahrgenommen?

Nußberger: Ja, sehr wohl. Auch natürlich oft kritisch, zum Beispiel als der EGMR Italien wegen kollektiver Ausweisung von im Mittelmeer aufgegriffenen Bootsflüchtlingen nach Libyen verurteilt hat, da die Asylgründe nicht individuell geprüft worden waren. Bootsflüchtlinge kann man nicht einfach in ein Land zurückbringen, in denen ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Aber die Frage ist, was politisch daraus folgt. Was wäre etwa, wenn ein Land für sich die Konsequenz zieht, erst gar keine Hilfsschiffe mehr loszuschicken?

KNA: In den Gerichtsakten verbergen sich Tausende Schicksale. Wie gehen Sie damit persönlich um?

Nußberger: Viele Fälle gehen einem nahe. Aber als Richter lernt man, professionelle Distanz zu wahren. Für mich entscheidend ist, dass der Gerichtshof Hoffnung macht, da er Rechtsverletzungen feststellen und, wenn nötig, als Anerkennung für erlittenes Unrecht auch eine Kompensation zusprechen kann.

Von Volker Hasenauer


Richterin Angelika Nussberger (M) am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg / © Jean-Francois Badias (dpa)
Richterin Angelika Nussberger (M) am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg / © Jean-Francois Badias ( dpa )
Quelle:
KNA