DOMRADIO.DE: Die schrecklichen Novemberpogrome jähren sich in diesen Tagen zum 80. Mal. Wie wollen Sie auch jüngere Menschen auf diese Thematik aufmerksam machen?
Dagmar Pruin (Geschäftsführerin der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste): Unsere Aktion heißt: "Wir erinnern". Ich glaube es ist ein sehr sprechender Titel und ein guter Titel für diesen Tag. Wir haben eine Aktion gestartet, mit der wir auf Geschichte, die vergessen wird, hinweisen wollen. Es ist ein relativ plakatives Konzept. Wir gehen an Orte, an denen zum Beispiel ein Warenhaus gestanden hat, eine Synagoge, ein Wohnhaus und projizieren das Bild dieser Synagoge, dieses Warenhauses, dieses Wohnhauses auf eine große Leinwand bzw. wir haben es auf eine große Leinwand gedruckt. Wir sind mit unseren jungen Menschen vor Ort, die von der Geschichte dieses Ortes erzählen, Passanten, Schülerinnen und Schüler dazu einladen und so einen Moment des lebendigen Erinnerns schaffen.
DOMRADIO.DE: Sie wollen die Menschen konkret anhalten und mit denen Kontakt aufnehmen?
Pruin: Ja, und wenn ich mit jemandem in Kontakt treten will, ist es gut, wenn es einen Punkt gibt, an dem etwas visualisiert wird. Gleichzeitig wollen wir aber in einen Austausch darüber treten, darüber informieren und genau darüber sprechen, was die Geschehnisse mit uns heute zu tun haben.
DOMRADIO.DE: In den vergangenen Jahren, gerade auch in den vergangenen Monaten gibt es eine Tendenz, die Taten des NS-Regimes herunterzuspielen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Zitat von AfD-Chef Gauland: Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte. Wie sehr schockieren Sie solche Aussagen?
Pruin: Sie ärgern mich. Ich würde gar nicht sagen, dass sie mich mehr schockieren. Denn es sind ja ganz bewusste Tabubrüche, die wir alle auch zukünftig erwarten müssen. So funktioniert das System leider. Damit ist man in einem Dilemma, denn am liebsten möchte man nicht reagieren und es einfach beiseitelegen. Gleichzeitig muss man auf so etwas reagieren. Es ist an uns, an der Zivilgesellschaft und an der Politik, da tätig entgegenzutreten.
Es geht vor allen Dingen darum, auch mit Menschen in Kontakt zu treten, ihnen von den Geschichten zu erzählen oder gerade auch Überlebende und ihre Nachkommen sprechen zu lassen. Ich glaube an der Stelle ist es wichtig, solche Behauptungen ganz deutlich damit zu konterkarieren, dass man sagt: "Das ist wirklich geschehen. Das hat eine Auswirkung auf uns heute. Es gibt Menschen, die das erlebt haben, und wir werden es nicht zulassen, dass das einfach nur als Vogelschiss bezeichnet wird." Das ist es ja nicht. Ich glaube, es ist das Moment in der deutschen Geschichte, was uns in vielen Dingen bis heute definiert, uns zwingt sich damit immer wieder auseinanderzusetzen. Und das ist auch richtig so.
Wir sprechen nicht von abstrakten Situationen, wir sprechen von Dingen, die Menschen hier in unserem Land erleben und erleiden mussten, weil das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte hier stattgefunden hat. Ich bin ganz sicher und ich sehe es auch, dass es viele Menschen gibt, die gerade aufgrund der politischen Situation, wie wir sie zurzeit haben, sich anstrengen, Dinge zu tun und gemeinsam Dinge auf die Beine zu bringen. Da ist auf keinen Fall das letzte Wort gesprochen.
Das Gespräch führte Tobias Fricke.