KNA: Beim Thema Missbrauch fällt sehr schnell das Stichwort katholische Kirche. Von der evangelischen Kirche ist wenig die Rede. Warum?
Christine Bergmann (Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs): Hier gab und gibt es natürlich auch immer wieder Fälle von Missbrauch. In der Regel handelt es sich dabei aber um vereinzelte Betroffene - anders als in der katholischen Kirche, wo es etwa an Ordensschulen viele Missbrauchsfälle an einem Ort gab. Wenn sich da - wie etwa beim Eckigen Tisch - die ehemaligen Schüler zusammenschließen, können sie mehr Aufmerksamkeit erzeugen und natürlich einen viel größeren Druck.
KNA: Wenn Sie von vereinzelten Fällen sprechen, meinen Sie dann auch, dass es sich um eine quantitativ kleine Zahl handelt?
Bergmann: Nein, das auf keinen Fall. Es ist für Betroffene nur schwieriger, sich zu Netzwerken zusammenzuschließen. Wenn ich von den Anhörungen in der Kommission ausgehe, sind es bei den Betroffenen, die sexualisierte Gewalt in einer kirchlichen Einrichtung erleiden mussten, rund zwei Drittel katholisch und ein Drittel evangelisch. Ähnliche Erfahrungen hatte ich auch als Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung bei der Auswertung der Anrufe bei der telefonischen Anlaufstelle. Umfassende Studien gibt es aber in der evangelischen Kirche nicht...
KNA: Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber hat nun in einem Interview erklärt, die evangelische Kirche sei aufgrund ihrer Strukturen weniger anfällig für Missbrauch - etwa weil die evangelische Kirche den Zölibat nicht hat. Können Sie seiner Argumentation zustimmen?
Bergmann: Dem widerspreche ich ganz klar: Natürlich gibt es in der evangelischen Kirche den Zölibat nicht. Aber auch hier gibt es systematische Machtstrukturen, die ausgenutzt werden können. Auch im evangelischen Umfeld war der Pfarrer vielerorts eine unangreifbare Autoritätsperson und ist es teilweise immer noch. Und es gab ähnliche Reaktionen der Menschen im Umfeld: Den Betroffenen wurde nicht geglaubt, auch in der evangelischen Kirche wurden Taten vertuscht und Pfarrer versetzt. Solange es keine umfassenden Untersuchungen gibt, sollte die evangelische Kirche hier sehr zurückhaltend sein.
KNA: Am Dienstag befasst sich nun die EKD-Synode mit dem Thema Missbrauch. Was fordern Sie als Mitglied der Aufarbeitungskommission?
Bergmann: Auch die evangelische Kirche sollte - analog zu der Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche - eine Untersuchung veranlassen, die Anhaltspunkte für die Häufigkeit der Missbrauchsfälle geben kann. Zudem sollte sie herausfinden, welche Strukturen etwa Missbrauch begünstigt haben. Eine weitere Forderung ist die nach einer unabhängigen zentralen Anlaufstelle, zu der Betroffene gehen können, die sich nicht an die eigene Landeskirche wenden wollen.
KNA: Was ist mit dem Umgang, den Betroffenen in der evangelischen Kirche erfahren haben und erfahren?
Bergmann: Da braucht es ganz klar die Haltung der Kirche, die Betroffenen nicht als Bittsteller zu behandeln. Die Kirche muss hier für die Taten, die geschehen sind, Verantwortung übernehmen - wie da verfahren wird, ist derzeit von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedlich, da wäre eine Standardisierung gut. Weiter fordert die Kommission ein transparentes Agieren, das es Betroffenen ermöglicht, in die Akten zu schauen. Zudem sollten sie bei der Aufarbeitung und bei dem Aufstellen von Präventionskonzepten beteiligt werden.
Von Birgit Wilke