Der sechsjährige Joshua verschwindet in einem gelb-rot-orangefarbenen Tunnel, die zwei Jahre ältere Schwester klettert oben drüber. "Anne, was ist das?", "Anne, guck mal, wo ich bin", hallt es durch die Museumshalle. Beide Kinder suchen die Aufmerksamkeit von Anne Hildenbrand, ihrer Leih-Oma. Die 74-Jährige hat die Geschwister von der Schule abgeholt und besucht mit ihnen eine interaktive Spielplatzausstellung in Bonn.
Hildenbrand hat ihre Leih-Enkel und die Familie über die Bonner Freiwilligenagentur kennengelernt. Das Projekt vermittelt ältere Menschen, die keine eigenen Enkel haben oder deren Familien weit weg wohnen, an Familien mit Kindern, die sich eine Oma oder einen Opa vor Ort wünschen. "Die Welt mal wieder mit den Augen eines Kindes sehen", so wirbt die Initiative um potenzielle Großeltern. Sie will ein Beziehungsangebot machen und Generationen zusammenbringen – keinen kostenlosen Betreuungsdienst anbieten.
"Manchmal essen wir auch Pommes"
Vor fünf Jahren sei ihr Mann gestorben, kurze Zeit später ihre Mutter, erzählt Hildenbrand. Danach habe sie sich für das Großeltern-Projekt gemeldet. Leih-Oma und Mutter trafen sich, und "die Chemie stimmte sofort", erinnert sich Hildenbrand. Seitdem unternimmt sie regelmäßig etwas mit den Kindern. Sie gehen zusammen spazieren, basteln oder spielen im Garten mit dem Hund der Leih-Oma. "Manchmal essen wir auch Pommes", sagt Joshua – ein Vergnügen, das es zu Hause so nicht gebe.
In der Großeltern-Rolle wolle sie nicht ganz so streng sein, aber trotzdem konsequent, erklärt Hildenbrand – ganz wie eine richtige Oma. Emily sagt gar: "Anne ist wie eine Oma für uns." Ohne sie wären die Geschwister bis zum späten Nachmittag in der Schulbetreuung geblieben. So erleben alle drei einen Nachmittag im Museum; eine Win-Win-Situation, die Freude macht, wie Hildenbrand findet. Zu ihren leiblichen Großeltern haben die Geschwister kaum Kontakt.
In guten Händen
Großeltern sind für Enkel oft wichtige Bezugspersonen: Wenn mit den Eltern etwas im Argen liegt, stehen sie in der Regel an der Seite der Kleinen. Bei Oma und Opa gibt es Süßigkeiten, Fernsehen und das Lieblingsessen. Die ältere Generation bietet Kindern eine begrenzte Lockerung vom Erziehungsregiment der Eltern. Trotzdem wissen die, dass ihre Kinder in guten Händen sind.
Großeltern-Projekte wie das in Bonn erfahren regen Zuspruch, Freiwillige werden vielerorts gesucht. Die Bonner Agentur prüft vorab, welche Vorstellungen die Leih-Großeltern auf der einen und die Eltern der Kinder auf der anderen Seite haben, und überlegt, wer zusammenpassen könnte. Workshops begleiten die freiwilligen Omas und Opas in der Anfangszeit, informieren, was auf sie zukommt, und machen darauf aufmerksam, dass Familienmodelle heutzutage in vieler Hinsicht anders aussehen können als in ihrer Jugend. Konflikte in Erziehungsfragen sollen so vermieden werden. Bei Hildenbrand und ihrer Leih-Familie funktioniert das. "Wir sind auf einer Linie, haben ähnliche Wertvorstellungen", sagt die Leih-Oma.
Es wächst zusammen
Die Bundesinitiative Großeltern kümmert sich um ältere Menschen, die aufgrund von Trennungen oder abgebrochenen Kontakten ihre Enkel nicht sehen können. Immer öfter treten jedoch auch Familien an sie heran, die nach Leih-Großelten fragen, sagt Annemarie Wittgen. Grundsätzlich begrüße sie die Idee von Ersatz-Großeltern. Alt und Jung kämen zusammen, die Generationenbeziehung werde gestärkt und Verständigungsproblemen vorgebeugt. Für Großeltern, die – aus welchen Gründen auch immer – keinen Kontakt zu ihren Enkeln hätten, sei eine solche Beziehung emotional jedoch oft schwierig.
Hildenbrand ist nach eigener Aussage gut in ihre Leih-Familie integriert, besucht Geburtstage und stellte ihre Leih-Enkel kürzlich sogar ihrer leiblichen Familie vor. Ob sie Angst habe, dass der Kontakt irgendwann abbreche? "Das liegt an einem selbst", meint die Leih-Oma. Aus ihrer Sicht wächst die Beziehung gerade zu einem richtigen Enkel-Großmutter-Verhältnis zusammen.