DOMRADIO.DE: Sie sind als junges Mädchen über längere Zeit von einem evangelischen Pfarrer missbraucht worden, haben das Jahre später angezeigt und auf Granit gebissen. Der Mann ist noch immer im Amt. Das ist kaum zu glauben, wenn man das so hört?
Kerstin Claus (Missbrauchsopfer und Mitglied im Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs): Ja, das stimmt. Es fällt immer wieder schwer. Ähnlich wie das in Teilen der katholischen Kirche berichtet wurde, habe ich erlebt, wie eine Kirche massiv Täter-schützend vorgeht. Damals hat der Pfarrer seine Tat gestanden, Beweise waren vorhanden und trotzdem waren die Konsequenzen der Kirche für ihn eine Auflage für eine gemeinnützige Spende und eine Entschuldigung bei mir. Für mich schockierend war auch, dass der Pfarrer kurz darauf sogar befördert werden konnte.
DOMRADIO.DE: Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf haben Sie dann die Ankündigung gehört: keine Toleranz Tätern und Mitwissern gegenüber. Konnten Sie die ernst nehmen?
Claus: Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass es auch für die evangelische Kirche eine Aufarbeitung braucht. Aufarbeitung, wo angezeigter sexueller Missbrauch tatsächlich nicht angemessen geahndet wurde, wo Akten verschwunden sind, wo Betroffene nicht angemessen gehört wurden und wo vielleicht auch Täter versetzt wurden. Dem ganzen müssen Taten folgen. Und da steht die evangelische Kirche aus meiner Sicht noch am Anfang.
DOMRADIO.DE: Sie haben am Sonntag Herrn Bedford-Strohm sofort eine SMS geschickt. Hat er Ihnen geantwortet?
Claus: Ja, wir sind im Kontakt. Wir waren auch in den vergangenen Jahren in Kontakt. Diese SMS kam nicht aus dem Nichts. Und ich habe ihm immer vorgeworfen, dass sie keine Lösung finden für einen Fall, der dokumentiert und bewiesen ist, und dieser Pfarrer weiterhin im Amt sein kann. Er hat sich gestern auch bei mir gemeldet und hat jetzt immerhin das deutliche Signal gesendet, er müsse sich dort nochmal mit der Landeskirche und mit seinen Juristen in Verbindung setzen. Das ist vielleicht ein erster Schritt.
DOMRADIO.DE: Dass die EKD-Synode sich mit dem Thema befasst, ist überfällig, sagen Sie. Sie finden das an sich natürlich auch gut, kritisieren aber, dass Betroffene wie Sie eigentlich gar nicht beteiligt werden.
Claus: Nun ja, ich bin ja Mitglied des Betroffenen-Rates. Es gab im Sommer dieses große Hearing, wo Betroffene laut und deutlich gesprochen haben. Und wenn man nun erstmalig auf einer Synode dieses Thema behandelt, ist das schon ein Armutszeugnis, wenn Betroffene nicht eingeladen werden, kein Rederecht haben und man nicht auf Augenhöhe und miteinander dieses Thema angeht.
DOMRADIO.DE: Die EKD will zwei Missbrauchs-Studien in Auftrag geben - eine Dunkelfeldstudie und eine zu Risikofaktoren. Wie bewerten Sie das?
Claus: Die Dunkelfeldstudie finden wir sehr gut. Und sie ist sehr wichtig, weil darüber erstmals erfasst werden kann, in welchem Ausmaß sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der evangelischen Kirche tatsächlich stattgefunden hat. Wir vom Betroffenenrat fordern gleichzeitig, dass es auch eine Kampagne braucht, in der die Kirche von sich aus sagt, was sie unter sexualisierte Gewalt fasst. Das heißt, dass Situationen, wo seelisch bürgerliche Nähe schrittweise ausgenutzt wurde oder beziehungsähnliche Muster aufgebaut wurden, die zu einer körperlichen sexualisierten Verfügungsgewalt führten, als sexualisierte Gewalt anerkannt werden. Eine Risikoanalyse ist immer gut, aber ich glaube, es ist letztendlich eine bekannte Tatsache, dass Nähe-Distanz-Verhalten sexualisierte Gewalt begünstigt.
DOMRADIO.DE: Sie engagieren sich im Betroffenenrat. Was sind Ihre ganz konkreten Forderungen an die evangelische Kirche? Was muss jetzt ganz dringend passieren?
Claus: Ganz wichtig ist: Es müssen Betroffene in Prozesse eingebunden werden. Es geht nicht, nur über Betroffene zu reden, sondern man muss sie in die Strukturen und in die Verfahren einbinden. Damit auch nachgehalten werden kann, ob diese Studien tatsächlich auch die drängenden Fragen von Betroffenen beantworten.
Es braucht den Zugang zu Akten, einfach um zu sehen, wo sind Verfahren nicht mit der angemessenen Härte geführt worden? Wo werden Täter in der Struktur geschützt? Und in unseren Augen braucht es einen Zeitplan. Es braucht einen Ablaufplan, bis wann welche Daten vorgelegt werden. Denn nur so kann man Prozesse nachhalten. Und da braucht es mehr als Absichtserklärungen. Da braucht es konkrete zeitliche Vorgaben, bis wann welche Ergebnisse vorliegen sollen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.