Sein Äußeres ähnele mittlerweile dem von Karl Marx, sagte Leonardo Boff bei einem Interview in Deutschland 2016, als er dort die Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Medaille erhielt.
Tatsächlich erinnert er mit dem wallenden weißen Haar und dem Propheten-Bart heute mehr an den Trierer Philosophen als an jenen rhetorisch brillanten Franziskaner-Pater, der vor rund 40 Jahren zu internationaler Berühmtheit gelangte. Damals war er einer der Shooting Stars unter den Befreiungstheologen, die von Lateinamerika aus eine radikale Wende im Denken der katholischen Kirche forderten: Weg von den Allianzen mit der herrschenden Klasse, hin zur Option für die Armen und Ausgestoßenen.
Joseph Ratzinger leitete Verfahren gegen Boff ein
Ideengeschichtlich handelte es sich bei dieser Strömung um einen Ausläufer der Linkswende von 1968, die bis nach Lateinamerika ausstrahlte. Boff, der zwischen 1964 und 1970 unter anderem im belgischen Löwen und in München studierte, ist ein Kind dieser Zeit.
Er versuchte, als Systematischer Theologe in Petropolis und als Zeitschriftenherausgeber, die Grundlagen der katholischen Dogmatik und der in ihr verankerten kirchlichen Hierarchie vom Kopf auf die Füße zu stellen, sie zu "erden".
Am radikalsten war dieser Versuch in dem Buch "Kleine Sakramentenlehre" - eine Lehre, die nur wenig mit dem zu tun hat, was man vorher unter diesem Begriff verstand. Den Gipfel seines Ruhms erreichte Boff durch ein Verfahren, das der Präfekt der Römischen Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, 1984 gegen ihn einleitete. Derselbe Ratzinger, der einst dem jungen Boff bei der Finanzierung seiner Habilitationsschrift unter die Arme gegriffen hatte, stellte nun fest, dass in Boffs Werk "Kirche, Charisma und Macht" von 1981 dogmatische Wahrheiten geleugnet und die Sakramentenlehre verwässert werde.
Zur Strafe musste Boff für ein Jahr bußschweigen - und verkaufte mehr Bücher denn je zuvor. Allerdings durfte er auch keine Vorträge mehr halten. Schon wenige Jahre später veröffentlichte er weitere, zum Teil sehr polemische Artikel gegen die Kirchenhierarchie. Parallel pflegte er Kontakte zu kommunistischen Ideologen in Havanna und in Moskau, wo er noch bis kurz vor dem Untergang der Sowjetunion ein gern gesehener Gast war.
1992 verließ Boff den Franziskanerorden, wurde laisiert und nahm eine Ethik-Professur an. Seither lebt er mit der Menschrechtsaktivistin Marcia Monteiro da Silva Miranda und deren Kindern und Enkeln zusammen. In seinen Vorträgen und Schriften hat sich Boff seit dem Sturz des Sozialismus immer stärker der globalen ökologischen Frage zugewendet.
Mit Franziskanern noch verbunden
Seinen ehemaligen Ordensbrüdern fühlt sich Boff weiter verbunden. Wenn er im Ausland auftritt, um eine Ehrung entgegenzunehmen oder einen Vortrag zu halten, sind Franziskaner bei ihm. Einer seiner wichtigsten Mitbrüder war der langjährige Erzbischof von Sao Paulo, Evaristo Arns. Zusammen mit Kardinal Aloisio Lorscheider verteidigte er Boff bei dessen Anhörung in der Glaubenskongregation.
Die franziskanischen Grundideen der brüderlichen Nähe zu den Armen und zur gesamten Schöpfung sind bis heute Leitgedanken in Boffs Denken. Für die Umweltenzyklika "Laudato si" (2015) forderte Papst Franziskus auch Material von Boff an und ließ einige Gedanken in den Text einfließen. Dass die beiden früher mal zwei sehr unterschiedliche Ausprägungen der Befreiungstheologie vertraten, ist inzwischen Schnee von gestern. "Papst Franziskus ist einer von uns", sagt Boff.
Er pflegt bis heute Kontakt zu anderen einst großen Namen in der internationalen Theologenszene. Mit einigen von ihnen teilt er das Schicksal, in der "Ära Ratzinger" durch Maßregelungen aus Rom einerseits gelitten, andererseits aber zusätzliche Prominenz gewonnen zu haben.
Zu seinen Weggefährten zählt auch Hans Küng (90). Als der Schweizer vor einigen Jahren angesichts körperlicher Gebrechen öffentlich darüber zu räsonieren begann, dass er für sich das Recht auf einen (assistierten) Suizid in Anspruch nehmen könne, widersprach ihm Boff.
Das Leiden in Alter, Krankheit und Sterben sei doch gerade die Zeit, in der man als bürgerlicher Akademiker von Gott mit den Armen auf eine Stufe gestellt werde, argumentierte er. Solidarität mit den Leidenden, so wie Jesus sie am Kreuz vorlebte, sei auch am Lebensende eine Aufgabe für einen Theologen.