Das Epizentrum des Missbrauchsbebens 2018 hat einen Namen: Theodore McCarrick. Washingtons 88-jähriger Ex-Kardinal soll vor rund 50 Jahren gegenüber zwei damals Minderjährigen sexuell übergriffig gewesen sein und später auch junge Priesteranwärter zum Sex genötigt haben. Weitere Fälle sind nicht ausgeschlossen. Und ausgerechnet McCarrick hatte im Zuge der Enthüllungen im Erzbistum Boston nach der Jahrtausendwende den Kampf gegen sexuelle Übergriffe von Priestern angeführt.
Im Juni nun geriet "Uncle Ted", wie die Betroffenen den Ende Juli aus dem Kardinalsstand entlassenen Kirchenmann nannten, selbst ins Visier. Dass ausgerechnet einer der prominentesten Verfechter einer "Null Toleranz"-Politik offenbar selbst übergriffig war, stürzt die US-Kirche erneut in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise. Seither verging kein Monat ohne neue Beschuldigungen gegen Kleriker. Die Causa McCarrick vertiefte auch den Grabenkrieg zwischen liberalen und konservativen Katholiken. Letztere sahen die Gunst der Stunde gekommen, um den ungeliebten Reformkurs von Papst Franziskus zu diskreditieren.
Untersuchungsbericht über Missbrauchsfälle in Pennsylvania
Die führende Rolle übernahm Erzbischof Carlo Maria Vigano, früherer päpstlicher Nuntius in den USA. In mehreren Schreiben hielt er Franziskus vor, über McCarricks sexuelle Übergriffe im Bilde gewesen zu sein, und legte dem Papst den Rücktritt nahe. Auch dessen Vorgänger Benedikt XVI. (2005-2013) soll Kenntnis über die dunklen Seiten von McCarrick gehabt haben. Viganos Vorwurf: Beide hätten wider besseres Wissen dessen Karriere ermöglicht - und seien für jahrelange Vertuschung mitverantwortlich.
Mitten hinein in diese Debatte veröffentlichte im August eine Grand-Jury-Kommission einen Untersuchungsbericht über Missbrauchsfälle in Pennsylvania. Schlimmste Befürchtungen wurden übertroffen. Über mehr als 70 Jahre dokumentiert der Bericht mehr als 1.000 minderjährige Betroffene und rund 300 beschuldigte Priester. Die zuständigen Diözesen hätten in einigen Fällen die Vergehen gekannt und verheimlicht.
In den Fokus rückte auch ein weiterer prominenter Bischof. Kardinal Donald Wuerl (78), bis Oktober an der Spitze des politisch einflussreichen Erzbistums Washington. Obwohl nicht selbst des Missbrauchs beschuldigt, soll Wuerl als Bischof von Pittsburgh (1988-2006) in mehreren Fällen schwere Verfehlungen seiner Priester gekannt, aber geschwiegen haben. Auch von Übergriffen seines Vorgängers in Washington, McCarrick, soll er gewusst haben - was er bestreitet. Die Empörung unter Kirchenbesuchern war groß. Er solle sich schämen, rief ihm einer sogar mitten in der Messe zu.
Die Fülle an Vorwürfen beschäftigt zahlreiche Staatsanwaltschaften in mehreren Bundesstaaten sowie erstmals auch auf Bundesebene. Die Kirche steht dadurch noch mehr unter Zugzwang, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen. Als die US-Bischofskonferenz im November in die Offensive gehen wollte, hielt Rom sie aber zurück.
Kein eigener Maßnahmenkatalog
Papst Franziskus schob den US-Bischöfen einen Riegel für einen eigenen, nationalen Maßnahmenkatalog vor. Demnach sollten Laien bei der Aufklärung eingebunden, externe Organisationen hinzugezogen und ein Verhaltenskodex für Bischöfe verabschiedet werden. Doch Franziskus bat den Konferenzvorsitzenden, Kardinal Daniel DiNardo, keine Beschlüsse fassen zu lassen. Dies solle dem Weltbischofstreffen im Februar in Rom vorbehalten bleiben - um zu zeigen, wie es der Papstbotschafter in den USA, Erzbischof Christophe Pierre, ausdrückte, "dass wir die Probleme selbst lösen können, statt sie an andere zu delegieren".
2018 legten auch die Jesuiten-Provinzen und andere Orden und Organisationen in den USA Missbrauchsfälle in ihren Reihen offen.
Auch die Medien lassen nicht locker. So enthüllten sie kürzlich, dass in Illinois Hunderte Übergriffe von Kirchenoberen nicht erfasst worden seien.
Der Druck auf Rom beim Welttreffen im Februar ist immens. Vor allem katholische Laien protestieren gegen die Hierarchie. Die Reaktionen im Kirchenvolk reichen von Wut bis Sprachlosigkeit. Der renommierte Publizist E. J. Dionne brachte die Befindlichkeit auf den Punkt, als er eine Frage aussprach, die vielen auf der Zunge liegt: "Wie kann ich hier noch bleiben?"