Einfach war ihre Aufgabe ohnehin nie. Regina Leao kümmert sich seit 28 Jahren um jene, um die sich sonst niemand kümmert: mittellose Jugendliche in den Favelas von Rio de Janeiro. Im Auftrag der "Pastoral do Menor" des örtlichen Erzbistums zeigt die Sozialarbeiterin gefährdeten Minderjährigen einen Ausweg aus der scheinbar endlosen Spirale von Armut, Drogen und Gewalt. Das von ihr geleitete Bildungszentrum "Comendador Armindo da Fonseca" ist eine Zufluchtsstätte inmitten des Kriegs zwischen Drogenbanden und Polizei.
Ohne Unterstützung wäre ihre Arbeit nicht möglich
Vorwiegend afrobrasilianische Jungen bekommen dort Nachhilfeunterricht - nicht selten ihre einzige Chance auf Bildung. Auf die Hilfe der Regierung, das weiß die 54-Jährige, kann sie dabei nicht zählen. Weder unter der linken Staatspräsidentin Dilma Rousseff noch unter dem konservativen Michel Temer hat sich daran etwas geändert. Ohne fremde Unterstützung - etwa durch das deutsche Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat - wäre die Arbeit der Jugendpastoral in Rios Armenvierteln kaum möglich. Eine Tatsache, mit der sich Leao irgendwie arrangieren musste.
Doch der Sieg des Rechtspopulisten Jair Messias Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl im Oktober hat selbst die resolute Jugendhelferin nachhaltig erschüttert. "Brasilien ist in einer gefährlichen Lage", sagt sie bei einem Deutschland-Besuch kurz vor Bolsonaros Amtsübernahme. Mit unheilvollem Unterton berichtet sie von den gesellschaftlichen Veränderungen, die sie in ihrem Heimatland beobachtet: Parallel zum "Mythos Bolsonaro" sei eine "Kultur des Hasses" entstanden - mit womöglich fatalen Folgen.
"Der Rassismus breitet sich aus"
Suanny Martins sieht das ähnlich. Die 27-Jährige entfloh mithilfe der Jugendpastoral der Brutalität der berüchtigten Acari-Favela in Rio. Inzwischen arbeitet sie für den Kinderschutzbund CEDECA und steht vor ihrem Uniabschluss als Sozialarbeiterin. "Der Rassismus breitet sich aus", sagt die Afrobrasilianerin. Es gebe kaum noch Hemmungen, Ressentiments offen zu zeigen.
Enttäuschend sei für sie vor allem, dass in ihrem Viertel auch etliche Schwarze und Homosexuelle für den ultrarechten Bolsonaro gestimmt hätten. "Das ist ein Rückschritt für uns", so Martins. Eine Ursache sei die weit verbreitete Anti-Haltung gegen die Arbeiterpartei PT, der viele die Alleinschuld für Korruption und Misswirtschaft im Land zuschöben.
Dabei lasse Bolsonaro ebenso ein stimmiges Konzept gegen die Missstände vermissen. Während seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Rios Abgeordneter im Nationalkongress habe er nichts Nennenswertes zustande gebracht.
Mehrere umstrittene Reformen angekündigt
Regina Leao befürchtet durch den Regierungswechsel eine weitere Zuspitzung der ohnehin schon schwierigen Lage in ihrer Heimatstadt. Eine 2008 vom Staat gestartete Befriedungspolitik für die Favelas breche wegen fehlender Gelder zusehends zusammen. Das Militär habe die Kontrolle übernommen. Nun könnten unter Bolsonaro weitere drastische Einschnitte folgen.
So habe der künftige Präsident bereits mehrere umstrittene Reformen angekündigt, erläutert Leao. Dazu zählten eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters und längere Heimaufenthalte für straffällig gewordene Jugendliche. Aus Sicht der Sozialarbeiterin würden solche Schritte die Lage aber nur verschlimmern. "Kinder- und Jugendrechte müssen gestärkt, nicht geschwächt werden", lautet ihre Auffassung. Eine Kriminalisierung der Jungen und Armen sei keine Lösung.
Stattdessen brächten Minderjährige in prekären Verhältnissen dringend mehr Hilfe, fordert Leao. "Was wir im Moment erleben, ist ein Massenmord an unserer Jugend", klagt sie und verweist auf die Dutzenden jungen Menschen, die Tag für Tag in Rios Drogenkrieg getötet werden. Gegen diese Gewalt und Perspektivlosigkeit will sie weiter kämpfen - mit Zuwendung und mit Bildung.
Von Alexander Pitz