Die Arbeitgeber sprachen von der "größten Torheit der letzten Jahrzehnte". Als Bundessozialminister Norbert Blüm 1995 die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherungen einführte, gab es große Widerstände. Bis zuletzt wurde über die Finanzierung gezankt. 24 Jahre später bezweifelt kaum jemand, dass die Versicherung in der alternden Gesellschaft notwendig ist. 3,3 Millionen Menschen erhalten Leistungen, ein dichtes Netz aus ambulanten Diensten, Infrastruktur für Tagespflege und Hilfen für pflegende Angehörige sowie von Heimen ist entstanden, auch Demenzkranke erhalten Leistungen. Die Pflege ist zum Thema geworden, das Wahlkämpfe beeinflusst.
Allerdings: Erneut stößt die Versicherung in der alternden Gesellschaft an ihre Grenzen. Alleine 2018 steht ein Minus von drei Milliarden Euro in der Bilanz. Die Pflegebeiträge steigen wie die Zahl der Empfänger; Heime und ambulante Dienste klagen über Personalnotstand, Familienstrukturen ändern sich, und was die Betroffenen an finanzieller Unterstützung erhalten, deckt nur einen Teil der Pflegekosten ab. Wie in der Zeit vor der Pflegeversicherung sind immer mehr Pflegebedürftige auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen. Schon ein Drittel der Heimbewohner bezieht Geld vom Sozialamt.
Immer mehr pflegebedürftige Menschen
Eine Grundsatzdebatte über die Finanzierung der Pflegeversicherung hat in den vergangenen Tagen Fahrt aufgenommen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab den Startschuss, und zwar mit der Forderung, es müsse ganz neu austariert werden, was die Familien bei der Versorgung der Pflegebedürftigen leisten könnten. "Wenn die Beiträge nicht immer weiter steigen sollen, dann wird man auch über andere Finanzierungsmodelle diskutieren müssen."
Zuvor hatte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung angeregt, über Steuerzuschüsse nachzudenken. Sie verwies darauf, dass der Beitragssatz angesichts immer zahlreicherer Pflegebedürftiger und der geplanten besseren Bezahlung der Pflegekräfte weiter steigen müsse. Laut Studie benötigen bis 2045 fünf Millionen Menschen Pflege; 2017 waren es 3,3 Millionen. Bis dahin rechnen die Autoren mit einer Beitragssteigerung von heute 3,05 auf 4,25 Prozent. Das wären für ein heutiges Durchschnittseinkommen fast 550 Euro mehr im Jahr.
Beiträge für gesetzliche Pflegeversicherung auch von Privatversicherten zu zahlen
In den kommenden Monaten werden Weichen gestellt: Spahn hatte zusammen mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD) im Sommer eine "Konzertierte Aktion Pflege" ins Leben gerufen, in der Politik, Arbeitgeber und rund 50 Organisationen ein Gesamtkonzept entwickeln wollen. Bis zum Sommer sollen Vorschläge vorgelegt werden.
Bei Opposition, Krankenkassen und Sozialverbänden erntete Spahn mit seiner Ansage viel Zustimmung. Allerdings gibt es unterschiedliche Modelle: SPD, und Linke erneuerten ihre Forderung nach einer Bürgerversicherung. Steigende Kosten seien auf Dauer nur zu finanzieren, "wenn auch Beamte und Privatversicherte in Zukunft Beiträge in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen", sagte SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach.
Niedrige Eigenanteile für Pflegeheimbewohner
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und die Deutsche Stiftung Patientenschutz sprachen sich - ähnlich wie zuvor die Gesetzlichen Krankenkassen - unter anderem für einen Steuerzuschuss aus. "Wie die Krankenversicherung muss auch die Pflegeversicherung zusätzlich durch Steuermittel finanziert werden", sagte Patientenschützer-Vorstand Eugen Brysch am Sonntag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Beide forderten wie Unions-Politiker zugleich niedrigere Eigenanteile für Pflegeheimbewohner. "Wir wollen verhindern, dass die Pflegebedürftigen mit den wachsenden Kosten alleine gelassen werden und in die Armut rutschen."
Auch für den Sozialverband VdK wäre das eine Lösung. Es gebe dort eine ganze Reihe von Leistungen, die von der gesamten Gesellschaft finanziert werden müssten, weil sie der ganzen Gesellschaft nutzten - etwa die Leistungen für pflegende Angehörige. Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Franz Wagner, sprach sich für eine Zusammenlegung von Pflege- und Krankenversicherung aus. Denn die meisten pflegebedürftigen Menschen seien auch krank, oft sogar chronisch, sagte er.