Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus haben Stimmen aus Politik und Gesellschaft zu einer lebendigen Erinnerungskultur gemahnt. "Dieser Tag lässt uns daran erinnern, was Rassenwahn, Hass und Menschenfeindlichkeit anrichten können", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem Podcast am Wochenende. "In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Millionen Menschen entrechtet, gefoltert, gequält und ermordet."
Merkel beklagte verschiedene Formen des Antisemitismus in der Gesellschaft. Es gebe zum einen "Hass auf Juden durch die hiesige Bevölkerung, aber auch durch zugewanderte muslimische Menschen, die diesen Hass auf ganz andere Weise noch einmal zum Ausdruck bringen", sagte die Bundeskanzlerin. Auch Hass auf Israel dürfe nicht geduldet werden.
Es sei wichtig, auch mehr als 70 Jahre danach an den Holocaust zu erinnern, "weil der Nationalsozialismus Teil unserer Geschichte ist". Deutschland müsse aktiv darauf hinwirken, "dass sich so etwas niemals wiederholt", sagte Merkel. Künftig werde es vor allem darauf ankommen "Gedenken neu zu gestalten", weil die Zeitzeugen immer weniger werden. Verschiedene Formen des Gedenkens, wie die Förderung von Gedenkstätten, aber auch private Initiativen, wie die sogenannten Stolpersteine, würden "in Zukunft an Bedeutung gewinnen".
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sprach sich für ein Umdenken in der Aufarbeitung der jüngeren deutschen Vergangenheit aus. "Unsere Erinnerungskultur bröckelt, sie steht unter Druck von extremen Rechten. Umso gefährlicher ist das Unwissen gerade der jungen Deutschen", schrieb Maas in einem Gastbeitrag der "Welt am Sonntag". "Wer heute geboren ist, für den ist etwa die Pogromnacht zeitlich genauso weit entfernt wie bei meiner Geburt ein Reichskanzler Bismarck. Das verändert das Gedenken, schafft mehr Distanz". Erforderlich seien neue Ansätze, um historische Erfahrungen für die Gegenwart zu nutzen. "Unsere Geschichte muss von einem Erinnerungs- noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden."
Papst Franziskus erinnerte auf Twitter an die Holocaust-Opfer: "Ihr unermessliches Leid ist eine Mahnung, die die Menschheit daran erinnert, dass wir alle Brüder und Schwestern sind."
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) betonte den Wert einer lebendigen Erinnerungskultur. "Wir dürfen nicht vergessen, was damals in unserem Land Menschen anderen Menschen angetan haben", sagte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. Die Präses der Synode der EKD, Irmgard Schwaetzer, hob hervor, dass den Kirchen angesichts ihrer Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen eine besondere Verantwortung zukomme. Sie müssten dafür sorgen, dass sich so etwas niemals wiederhole.
"Wir müssen den Anfängen wehren"
Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, forderte einen "Aufschrei der gesellschaftlichen und politischen Institutionen" gegen einen wachsenden Antisemitismus in Europa und speziell in Deutschland. "Wir müssen den Anfängen wehren", sagte sie der "Passauer Neue Presse".
Der Judenhass habe hierzulande wieder deutlich zugenommen, so die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. "Wir erleben ihn von allen Seiten - von der politischen Linken, von Rechtsextremen wie der AfD und von Muslimen, die den Judenhass mit einer Israelfeindlichkeit verbinden."
Sie habe zwar den Glauben an Deutschland nicht verloren, "aber es ist fünf vor zwölf", sagte die 86-Jährige: "Es fehlt noch immer der große gesellschaftliche Widerstand." Die AfD kritisierte Knobloch als "Sammelbecken für Rechtsradikale, Nationalisten und Antisemiten". Im "Spiegel" ergänzte sie: "Sie bedroht den Fortbestand unseres höchst erfolgreichen Gemeinwesens."
"Es scheint ein Ruck durch Europa zu gehen"
Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, äußerte Sorgen, dass "das gesellschaftliche Klima mit nicht nur antisemitischem Hass" vergiftet wird. "An die Stelle von Empathie und Toleranz tritt Abgrenzung, Neid und aggressiver Hass", so Heubner. Aber: "Gerade deshalb sind die Überlebenden von Auschwitz in diesen Tagen besonders froh darüber, dass ein Ruck durch Europa zu gehen scheint und immer mehr Menschen ihre gleichgültige Distanz aufgeben und diesen Entwicklungen entgegentreten."