DOMRADIO.DE: Wie nehmen Sie die Austrittszahlen auf? Wie dramatisch ist der Anstieg der Austrittszahlen?
Dr. Antonius Hamers (Leiter des Katholischen Büros Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf): Zunächst einmal bedauere ich das sehr, dass so viele Menschen uns den Rücken zugekehrt haben. Es tut mir um jeden Einzelnen Leid, der geht. Was die konkrete Motivlage ist und um welche Alterskohorte es sich handelt, kann ich natürlich im Moment noch nicht sagen. Die Zahlen sind noch nicht entsprechend aufgearbeitet. Ich fürchte nur, dass es sehr viele jüngere Menschen sein werden. Es gilt natürlich zu schauen, welche Gründe dafür vorgelegen haben. Vor allem aber, wie darauf reagiert werden kann.
DOMRADIO.DE: Wie steht denn das Bundesland Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu anderen Bundesländern da?
Hamers: Wie die Austrittszahlen konkret in anderen Bundesländern sind, weiß ich nicht. Natürlich sind in Nordrhein-Westfalen die Zahlen sehr hoch, weil wir ein großes Bundesland sind. Das steht außer Frage. Man wird noch abwarten müssen, wie sich die Austrittszahlen in den anderen Bundesländern entwickeln. Ich fürchte, sie werden nicht ganz anders werden. Die Tendenz wird die gleiche sein, wie in NRW. Denn auch insgesamt geht die Tendenz nach oben.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt da der Missbrauchsskandal bei der gestiegenen Zahl der Austritte?
Hamers: Der Missbrauchsskandal hat unsere Glaubwürdigkeit sehr stark in Frage gestellt. Insofern gehe ich bei der Motivlage davon aus, dass er eine sehr große Rolle gespielt hat. Für viele war das sicher der Anlass zu gehen, also der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Viele haben sich schon länger mit dem Gedanken befasst, jetzt war für sie vielleicht endgültig der Anlass zu sagen, es ist Schluss.
DOMRADIO.DE: Kardinal Woelki hat sich bereits zu dem Thema geäußert. Er sagt: Die Kirche muss das Vertrauen der Menschen zurück gewinnen. Wie könnte das Ihrer Meinung nach funktionieren?
Hamers: Das kann zum Beispiel meines Erachtens dadurch funktionieren, dass wir deutlich machen, wie wir auf den Missbrauchsskandal und die Taten reagieren. Nämlich indem wir erstens ganz viel für die Prävention tun. Wir müssen dafür etwas tun, dass in unseren Strukturen und Einrichtungen so etwas nicht mehr passiert. In allen fünf Bistümern haben wir Präventionsbeauftragte, die sind ganz bewusst zuständig dafür, welche präventiven Maßnahmen ergriffen werden. Die Haupt- und Ehrenamtlichen müssen geschult werden. Wir haben bereits Tausende in den fünf Bistümern geschult. Sie müssen sensibel dafür gemacht werden, wenn Verdachtsfälle von Missbrauch im Raum stehen könnten. Vor allem geht es natürlich in den Präventionsschulungen darum, so etwas überhaupt gar nicht mehr geschehen zu lassen. Es gibt eine entsprechende Präventionsordnung, die die Grundlage dafür bietet.
Das Zweite ist die sogenannte Intervention. Wie reagieren wir darauf, wenn es zu Missbrauchsfällen in der Kirche gekommen ist? Es kann nicht mehr darum gehen, etwas zu vertuschen. Wir müssen damit transparent umgehen. Vor allem muss sich um die Opfer, die Betroffenen, gekümmert werden. Die fünf Bistümer sind sich Gott sei Dank einig, dass wir das auf einem ganz hohen Niveau und abgestimmt einrichten müssen. Da sind wir in einem ständigen Gespräch – die Generalvikare und Präventionsbeauftragten –, um ein Verfahren zu etablieren.
DOMRADIO.DE: Eine Studie im Auftrag des Erzbistums München-Freising hat ergeben, dass bundesweit mehr als 40 Prozent der Katholiken schon einmal über einen Austritt nachgedacht haben. Gründe für einen Verbleib in der Kirche sind häufig Bequemlichkeit oder Familientradition. Welche Themen muss denn die Kirche in Zukunft angehen, um gerade diese Menschen trotzdem in der Kirche zu halten?
Hamers: Es gibt neben den Studien, warum Menschen aus der Kirche gehen, auch ganz interessante Studien darüber, warum Menschen in der Kirche bleiben. Wir müssen uns natürlich daran orientieren, was die Menschen bewegt und was sie von uns als Kirche erwarten. Dazu gehört ein gutes liturgisches Angebot, ein gutes Verkündigungs- und kirchenmusikalisches Angebot. Wir müssen deutlich machen, dass wir etwas verkünden und für etwas einstehen, was sie sonst in anderen Bereichen nicht finden – nämlich der Bezug zu Jesus Christus und zu Gott.
Darüber hinaus gibt es auch unsere Bildungseinrichtungen. Es ist ganz wichtig, deutlich zu machen, dass die Vielzahl der Kindergärten und Schulen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, auch pastorale Orte sind. Dort kommen wir mit Menschen in Berührung, die unsere Gottesdienste vielleicht nicht mehr besuchen. Sie haben aber dennoch ein großes Interesse daran, auch ein pastorales Angebot zu bekommen. Auch in den sozialen Einrichtungen, von Krankenhäusern bis Altenheimen, muss deutlich werden, aus welcher Motivationslage heraus wir diese Dienste anbieten.
Wir müssen deutlich machen, dass wir für die Fragen der Gesellschaft und vor allem für die Fragen, die Menschen haben, auch heute noch eine Antwort haben. Und die kommt aus dem Evangelium Jesu Christi heraus. Das müssen wir viel deutlicher machen – und wir müssen den Menschen nicht drohen und ihnen keine Vorschriften machen. Kirche muss versuchen die Menschen in eine Lage zu versetzen, dass sie selbstverantwortlich, froh und frei ihr Leben gestalten. Da ist ganz wichtig, dass wir das als Auftrag des Evangeliums sehen. Das sind keine Verbote, sondern muss vielmehr Hilfe für ein erfülltes Leben sein, mit Blick auf Gott und die Menschen.
Das Interview führte Beatrice Steineke.