Frankreich ist getroffen. Hakenkreuze auf ein Porträt der Auschwitz-Überlebenden Simone Veil, abgesägte Bäume an der Gedenkstätte für den 2006 von Muslimen zu Tode gefolterten Ilan Halimi und ein entweihter jüdischer Friedhof im Elsass. Antisemitische Taten haben rapide zugenommen in den vergangenen Monaten und Wochen in Deutschlands Nachbarland. Zwischen 2017 und 2018 stieg die Anzahl antisemitischer Vorfälle von 311 auf 541. Ein Phänomen, das man überwunden glaubte, blüht wieder auf.
"Jedes Mal, wenn ein Franzose beschimpft, bedroht oder schlimmer verletzt oder getötet wird, weil er Jude ist, ist die Republik getroffen", sagte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Dienstag, nachdem Unbekannte in der Nacht zuvor 96 Grabsteine im elsässischen Quatzenheim besprüht hatten. Macron erkennt, wie ernst die Lage ist. Er änderte seine Termine und reiste nach Straßburg zum Friedhof. Zusammen mit dem Oberrabbiner von Frankreich, Haim Korsia, betete er an einem der entweihten Gräber. Der schweigende Präsident trug die Kippa.
Was ist die Ursache für Antisemitismus
Warum zeigt sich der Antisemitismus gerade jetzt in Frankreich? Der Direktor der Beobachtungsstelle für Ungleichheit, Jean-Yves Camus, sieht die Ursache nicht in der Gelbwestenbewegung, sondern in der Wahl von Macron 2017. Als ehemaliger Banker sei er der Inbegriff für das "kosmopolitische Finanzwesen", sagt Camus der französischen Zeitung "La Croix". Die Gewalt auf Frankreichs Straßen zeige eine Form der Selbstverachtung. "Es scheint als würden die Franzosen sich nicht mehr lieben", sagt Camus.
Antisemitismus ist laut Camus eine Form des "Neids auf die besondere Mission des jüdischen Volkes". "Es ist illusorisch zu glauben, das wir den Antisemitismus besiegen", sagt Camus. Seit Jahren gebe es ein "antisemitisches Grundrauschen", das nicht zu unterdrücken sei. Man könne nur die Auswirkungen einschränken. "Wir müssen den Judaismus demystifizieren", so Camus.
In Lille, Straßburg und Paris gingen sie auf die Straße
Dass Tausende Franzosen nicht einverstanden sind mit dem Antisemitismus zeigten sie am Dienstagabend. In Lille, Straßburg und Paris gingen sie auf die Straße. Sie trugen Plakate "Das reicht!" oder "Lebt das Zusammenleben". Mitten unter ihnen waren Minister, Abgeordnete, Muslime, Protestanten, Katholiken.
Besonders das Verhältnis von Juden und Muslimen war in der Vergangenheit von Spannungen geprägt. Nachdem die 65-jährige jüdisch-orthodoxe Sarah Halimi mutmaßlich von einem Muslim im April 2017 getötet worden war, warnten 300 französische Persönlichkeiten im Frühjahr 2018 vor einem "neuen Antisemitismus" als Ergebnis eines immer stärker gewordenen radikalen Islam. Über die Täter der Entweihung des Friedhofs in Quatzenheim ist bisher noch nichts bekannt.
Religionsvertreter forderten einen "Aufschrei der Gewissen"
Macron besuchte am Mittwochabend die Pariser Holocaust-Gedenkstätte, die an die 76.000 Juden erinnert, die im Zweiten Weltkrieg deportiert wurden. Es war das erste Mal, dass Macron die Gedenkstelle als Staatspräsident besuchte. Begleitet wurde Macron unter anderem vom Generalsekretär der Französischen Bischofskonferenz, Olivier Ribadeau-Dumans, sowie Vertretern jüdischer und muslimischer Verbände. Die Religionsvertreter forderten einen "Aufschrei der Gewissen". Antisemitische Taten "zerstörten ganz Frankreich". Aus diesem Grund sei es wichtig, sich klar dagegen zu positionieren.
Der Oberrabbiner von Frankreich, Haim Korsia, forderte, der Kampf gegen Antisemitismus müsse ein großes nationales Anliegen werden. Es sei wichtig zu zeigen, dass der Antisemitismus nicht nur ein Problem von Juden, sondern der gesamten Gesellschaft sei.
Kritik daran, dass "konkrete Reaktionen" auf die antisemitischen Taten ausblieben
Zudem kritisierte er, dass "konkrete Reaktionen" auf die antisemitischen Taten ausblieben. 2015 sei etwa gefordert worden, die Friedhöfe mit Kameras zu überwachen. Das sei nicht passiert. Für die Unbekannten, die den Friedhof in Quatzenheim verwüsteten, forderte Korsia härtere Strafen als in der Vergangenheit.
Frankreichs Premierminister Edouard Philippe kündigte auf dem Platz der Republik in Paris an, neue Gesetze auf den Weg zu bringen, um diese Taten "hart" zu bestrafen. Sich zu versammeln, sei nicht ausreichend, aber notwendig, so Philippe. "Diese ruhige und ernste Versammlung sagt viel darüber aus, wer wir sind", sagte der Premierminister.
Am Mittwochabend wird Staatspräsident Macron bei einem Abendessen des Rates der jüdischen Institutionen von Frankreich eine Rede halten. Ein Dialog, der im Rahmen eines neuen Austauschs zwischen Staat und Religion steht.