DOMRADIO.DE: Frau Bracke, pro Jahr gibt es in Deutschland 10.000 Suizide, weltweit 800.000. Die Suizidversuche aber liegen noch einmal deutlich höher. Am Telefon begegnen Ihnen Menschen, die sich unter Umständen damit beschäftigen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Woran merken Sie das? Wird das offen ausgesprochen?
Annelie Bracke (Leiterin der Katholischen Telefonseelsorge Köln): Das ist ganz unterschiedlich. Am Seelsorgetelefon unserer Dienststelle führen wir am Tag etwa zwei bis drei Gespräche mit suizidalen Inhalten. Dann erzählen Anrufer von vagen Suizidgedanken, von ganz konkreten Absichten oder aber sie berichten von Erfahrungen vergangener Suizidversuche. Manchmal ist auch „nur“ eine sogenannte verdeckte Absicht, dem Leben ein Ende zu setzen, herauszuhören. Das kann sich zeigen in Formulierungen wie: „Ich will das alles nicht mehr.“ Oder: „Ich wünschte, es wäre einfach alles vorbei.“ Bei solchen Andeutungen fragen wir behutsam nach. Es ist ein Abtasten in kleinen Schritten. Wichtig ist zu verstehen, was hinter dem formulierten Todeswunsch steckt. Denn „Ich will nicht mehr leben“ heißt oft: „Ich will leben, aber nicht so.“ Wir versuchen, die Verzweiflung ebenso zu erspüren und auszuhalten wie den Wunsch nach Nähe und nach Leben zu erahnen. Es ist immer wichtig, den Anrufer auf das Thema direkt, wenn auch mit sehr viel Sensibilität anzusprechen. Denn oft ist die Ahnung, dass sich hinter solchen verschlüsselten Aussagen eine ernste Absicht verbirgt, richtig. Wir hören aufmerksam zu und genau hin. Darin sind wir geschult.
DOMRADIO.DE: Warum wollen Menschen sterben?
Bracke: Sich das Leben zu nehmen erscheint oft wie eine Tür, wie ein verlockender Ausweg aus einer bedrückenden Lebenssituation. Diese Tür verheißt die Aussicht auf etwas Besseres, zumal der Blick auf das eigene Leben gerade wie ein Tunnel ist: völlig eingeschränkt. Wir geben diesen Menschen dann einen Raum, in dem sie angstfrei ihre Sorgen und Nöte aussprechen können, ohne bewertet zu werden. Denn es geht uns nicht darum, den Anrufenden ihre Selbstbestimmung zu nehmen, sondern wir wollen aufspüren, wo Wege zum Weiterleben gesehen werden können. Das heißt, dass wir versuchen nachzuvollziehen, was den Gedanken, nicht mehr zu leben, so attraktiv macht.
Auch hier gibt es unterschiedliche Gruppen: Die einen wollen – eher aggressiv – demonstrieren, wie schlecht es ihnen geht, und auf sich aufmerksam machen. Andere – eventuell unter Medikamenteneinwirkung – sind völlig ruhig. Wieder andere zeigen die Symptome einer Depression. Denn es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen, die zur Depression und damit auch zur sozialen Isolation führen, als Krankheit aber manchmal gar nicht erkannt werden, dabei mit einer Therapie wirksam zu behandeln wären. Und dann sind da noch die, die nichts mehr spüren wollen, die sagen: Ich will mich wegmachen. Ich bin es nicht wert zu leben, die die Selbsttötung als einen letzten Akt der Selbstbestimmung betrachten und ihrer Ohnmacht ein Ende setzen wollen. Oder es gibt diejenigen, die eine Selbsttötung aus Rache wollen, um einen ihnen nahe stehenden Menschen zu bestrafen. Hier gibt es eine ganze Palette an möglichen Motiven.
DOMRADIO.DE: Was können Sie tun, wenn Sie eine suizidale Absicht vermuten oder wenn diese ganz offenkundig besteht?
Bracke: Vor allem nicht hektisch werden und innerlich in Kontakt zu dem Anrufenden bleiben, seine Ausweglosigkeit und Verzweiflung selber ein Stück empfinden, ohne selbst mit in den Abgrund zu geraten. Pauschale Ratschläge „Das wird schon wieder“ sind in jedem Fall völlig fehl am Platz. Vielmehr wollen wir dabei helfen, noch einmal einen anderen Blickwinkel einzunehmen und nach dem zu fragen, was gut im Leben des Anrufenden ist, um herauszufinden und ihn darüber sprechen zu lassen, was ihn bisher im Leben gehalten hat. Diese positive Seite gilt es dann verstärkt zu beleuchten.
DOMRADIO.DE: Bedarf es dafür einer gezielten Kommunikationsmethode?
Bracke: Natürlich. Und auch Empathie ist für unsere Arbeit unerlässlich. Es geht darum, diesen Tunnelblick, der nur ins Dunkle führt, ein wenig zu öffnen, zu weiten und ihn auf gute Erfahrungen zu lenken. Das gelingt aber nur, wenn wir auch ein Verständnis für das Dunkle im Leben oder im Inneren des Anrufenden finden können. Sonst wird er uns immer wieder entgegenhalten, wie wenig wir verstehen und wie ausweglos ihm alles erscheint. Wer anruft, ist immerhin noch an einem Kontakt interessiert.
Dann muss man kreativ sein. Man kann fragen: Was hat Sie bislang vom letzten Schritt abgehalten? Vielleicht die eigenen Kinder? Indem wir den Anrufer beispielsweise von der Familie erzählen lassen, kann dieser Ansatzpunkt im Verlauf des Gesprächs verstärkt werden. Damit kann ich Zeit gewinnen und Vertrauen aufbauen. Außerdem kann man aufzeigen, was derjenige alles in seinem Leben schon geschafft hat. Manchmal bittet der Anrufer auch ganz konkret um Hilfe, ihn jetzt nicht allein zu lassen. Dann bestellen wir einen Rettungswagen. Doch bei 95 Prozent aller Anrufer wissen wir nicht, von wo aus angerufen wird. Und das müssen wir dann auch aushalten.
DOMRADIO.DE: Psychiater sagen: Wer sterben will – dem gelingt das auch. Das heißt, einen potenziellen Suizidanten bringt man nicht von seinem Vorhaben ab. Signale eines angekündigten Suizids sendet mitunter aber auch aus, wer zwar einen starken Todeswunsch hat, aber zwischen Leben und Sterben noch hin- und hergerissen ist und sich in dieser Ambivalenz primär nach Beachtung und Zuwendung sehnt…
Bracke: In der Tat: Wer entschieden ist zu sterben, der lässt sich von seinem Entschluss nicht abbringen. So traurig das ist. Allerdings ist es – wie gesagt – immer noch ein gutes Zeichen, wenn jemand überhaupt zum Telefonhörer greift. Natürlich gibt es auch die, die eine bedrohliche Situation inszenieren, um beachtet zu werden. Eine solche Drohung ist gerade für Angehörige die Hölle.
DOMRADIO.DE: Erfahren Sie manchmal, wenn alle Mühe nicht ausgereicht hat, um einen „lebensmüden“ Menschen an seinem Entschluss zu hindern?
Bracke: Unser Angebot gewährleistet Anonymität und findet vertraulich statt. Das heißt, in den meisten Fällen wissen wir nicht, mit wem wir sprechen. Das gibt dem Gegenüber ganz viel Sicherheit, und das ist wichtig. Das bedeutet aber auch: Ein Gesprächsabbruch setzt jeder unserer Anstrengungen ein Ende. Selbst wenn wir am nächsten Tag in die Zeitung schauen, erfahren wir meistens nicht, wie die Geschichte dieses Menschen weitergegangen ist. Wir leben damit, dass Begegnung nur punktuell stattfindet. Dafür sind wir da.
DOMRADIO.DE: Gibt es bestimmte Altersgruppen oder Menschen aus bestimmten Milieus, die unter Suizidgefährdeten überproportional oft vertreten sind?
Bracke: Grundsätzlich gibt es die Selbsttötung in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen. Allerdings sind es in allen Gruppen deutlich mehr Männer als Frauen, die sich selbst das Leben nehmen. Bei den Suizidversuchen sind es hingegen sehr viel mehr Frauen. Erschreckend ist, dass viele Jugendliche ihrem Leben ein Ende setzen. Und dann auch viele alte Menschen. In der jungen Generation gibt es Auslöser: zum Beispiel körperliche oder seelische Gewalterfahrung, Trennungen, Mobbing… Wer jung ist, hat seine Entwicklungsaufgabe noch nicht abgeschlossen, leidet vielleicht an innerer Heimatlosigkeit, mangelndem Selbstwertgefühl und ist noch nicht gefestigt genug, um eine äußerlich veranlasste Krise bewältigen zu können.
Für Menschen im hohen Alter hingegen brechen ganze Sinn- und Beziehungswelten weg. Wenn die Säulen, auf denen ihr Leben aufgebaut ist – Gesundheit, soziales Leben, berufliche Tätigkeit – ins Wanken geraten oder der Partner und die gleichaltrigen Freunde sterben, der Umzug in ein Heim zu einem kritischen Lebensereignis wird und das eigene Selbstbild erschüttert, hält manche Menschen nichts mehr im Leben. Sie entwickeln eine Lebensmüdigkeit oder Todessehnsucht, der sie irgendwann nachgeben. Die Endlichkeit rückt näher, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten nehmen ab, und so werden Grenzen spürbarer. In manchen, aber eher seltenen Fällen kann auch eine Disposition mitverantwortlich für einen Suizid sein.
DOMRADIO.DE: Die „Woche für das Leben“ holt den Suizid aus einer gesellschaftlichen Tabu-Zone. Es gab Zeiten, in denen Suizidanten sogar ein katholisches Begräbnis verweigert wurde. Heute ist „Suizidologie“ ein praktisch-wissenschaftliches Querschnittsfach, das von Theologie und Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaften, Psychiatrie bis hin zur Neurobiologie und Genetik reicht. Suizidprävention, so heißt es mittlerweile, ist daher nur interdisziplinär und unter der Beteiligung aller dieser Spezialisten möglich. Welchen Stellenwert hat da die katholische Telefonseelsorge?
Bracke: Wir machen Krisenintervention. Und Krisen lassen sich nicht verschieben. Das heißt, wir sind rund um die Uhr erreichbar, von überall her und kostenfrei. Die Telefonseelsorge ist ein niedrigschwelliges Angebot und für Menschen in Not meistens erste Anlaufstelle. Oft wird unser Dienst, der weitgehend vom Ehrenamt lebt und sich in kirchlicher Trägerschaft befindet, in einem sehr frühen Stadium eines möglichen suizidalen Prozesses in Anspruch genommen. Insofern kommt ihm eine wesentliche Aufgabe zu, wenn es darum geht, Suizidtendenzen frühzeitig entgegenzuwirken. Aber ihre präventiven Möglichkeiten sind auch begrenzt. Eine psychische Erkrankung zum Beispiel bedarf der professionellen medizinisch-therapeutischen Hilfe. Da können wir dann fachliche Unterstützung oder Beratungsstellen für die Behandlung anhaltender Krisen empfehlen. Was übrigens auch für Angehörige gilt, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben und fassungslos vor diesem traumatischen Ereignis stehen.
DOMRADIO.DE: In kirchlicher Trägerschaft bedeutet dann ja auch, einen diakonischen Auftrag zu erfüllen…
Bracke: Unbedingt. Wir wollen das Leben schützen, was nicht bedeutet, dass wir die Verzweiflung eines Anrufers nicht in ihrer ganzen Tragweite ernst nehmen und ihm unsere Sicht auf das Leben aufdrücken wollen. Aber uns leitet, dass Gott die Menschen liebt und dass er will, dass sie ein Leben in Fülle haben. Hier setzt die Telefonseelsorge an. Ich begegne jemandem, der seelisch verwundet ist, und biete ihm oder ihr Hilfe an. Hier wird für mich Menschenbegegnung zur Gottesbegegnung.
DOMRADIO.DE: Was kann jeder Einzelne denn tun, wenn er merkt, dass mit einem Angehörigen, dem Freund, der Freundin oder mit dem Nachbarn irgendetwas nicht stimmt?
Bracke: Respektvoll, vorsichtig, aber doch offen nachfragen und die eigene Wahrnehmung und Sorge um den anderen formulieren. Man darf ehrlich sagen: Ich kann Dich nicht von Deinem Schritt abhalten, aber ich möchte für Dich da sein – und damit eine liebevolle Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Niemand macht eine Situation schlimmer, indem er sie anspricht. Manchmal hilft es dem anderen sogar, indem man sagt: Ich verstehe, wie schwer Dein Leben ist – um ihm gleichzeitig ein Stück von dieser Bürde abzunehmen.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie selbst mit diesem so verantwortungsvollen Dienst um?
Bracke: Die Telefonseelsorge ist eine zutiefst sinnstiftende Aufgabe. Aber ich weiß auch um meine Ohnmacht und Grenzen. Und ich weiß, dass ich keine Verantwortung für das Leben eines Menschen habe, dem ich zwar helfen will, den ich aber unter Umständen nicht erreiche. Trotzdem berührt mich seine Geschichte. Ich tue alles, was in meiner Macht steht. Aber am Ende bestimmt er über sein Leben und auch über den Zeitpunkt seines Sterbens. Doch gerade weil ich mich auch auf seine dunkelste Seite einlasse, kann ich in dieser Haltung Anwalt für das Leben sein.
Hinweis
Die kostenlosen Rufnummern lauten bundesweit 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222, per Mail und Chat ist die Telefonseelsorge erreichbar unter www.telefonseelsorge.de.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.