DOMRADIO.DE: Pater Entrich, seit über 50 Jahren gehören Sie dem Dominikanerorden an. In den 80er Jahren waren Sie Prior des Kölner Konventes an St. Andreas, später Homiletik-Dozent am Priesterseminar. 1996 haben Sie die Leitung des Bereichs Pastoral im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz übernommen. Heute sind Sie Geschäftsführer des Institutes für Pastoralhomiletik und haben zudem einen Namen als Buchautor. Wie viel Zeit bleibt bei einem derart umtriebigen Leben noch für die Gemeinschaft?
Pater Dr. Manfred Entrich OP (Seelsorger an der Düsseldorfer Dominikanerkirche St. Andreas): Als Dominikaner sind wir Predigerbrüder, wie unser Name "Ordo praedicatorum" – dafür steht das Kürzel OP – besagt. Von Gott sprechen – das ist unser Profil. Ja, wir leben in einer Gemeinschaft, gehen aber alle trotzdem individuellen Tätigkeiten nach. Das heißt, jeder hat Verantwortung innerhalb und außerhalb des Konventes. Bei uns kommen verschiedene Ausbildungen, Berufe und Lebenserfahrungen zusammen. Mit dieser Vielfalt bereichern wir uns gegenseitig. Unsere Gemeinschaft heißt deshalb auch "Konvent" von lateinisch convenire – zusammenkommen – und nicht "Kloster", was in der Übersetzung "abgeschlossener Bereich" bedeutet. Wir alle haben also ein multifunktionales Leben. Das verlangt gegenseitige Akzeptanz, schließt aber nicht aus, dennoch mit der Gemeinschaft in engem Kontakt zu sein.
Meine Priorität war immer: Ich bin Dominikaner unter Dominikanern. Auch in den vielen Jahren, in denen ich alleine gelebt habe, vorübergehend in Leipzig asigniert war und mich während meiner Bonner Zeit, wo es keinen Dominikanerkonvent gibt, der Schwesterngemeinschaft der Franziskanerinnen in Beuel angeschlossen habe, war mir immer wichtig, den Kontakt zu einzelnen meiner Mitbrüder zu halten. Irgendwann wurde mir bewusst: Eigentlich gehst Du mit dieser Art zu leben auf Distanz zu dem, was Du als Ordensmann ursprünglich einmal wolltest. Also bin ich nach Beendigung meiner Arbeit bei der Bischofskonferenz wieder zurück zu meinen Brüdern gegangen, wo ich schnell wieder Anschluss gefunden habe. Eine solche Resozialisierung schaffen noch lange nicht alle. Für mich aber war ganz klar: Auch wenn ich gut allein sein kann, brauche ich die Rückbindung und eine Sicherung im Hintergrund.
DOMRADIO.DE: Und wie sah es in dieser Zeit mit dem geistlichen Leben aus?
Entrich: Es gab rückblickend sicher Phasen, in denen zwar wenig Zeit für die Gemeinschaft blieb, aber immer Raum für das Stundengebet, für meine Beziehung mit Gott. Auch die Gespräche mit meinem geistlichen Begleiter waren mir wichtig. Ich brauche jemanden, mit dem ich vertrauensvoll mein Leben reflektieren kann. Jeder, der ein geistliches Leben hat, sollte auf eine solche Begleitung nicht verzichten. Dafür habe ich mir immer Zeit genommen.
DOMRADIO.DE: Außenstehende machen sich merkwürdige Vorstellungen über das Leben hinter den sprichwörtlichen Klostermauern. Ist so ein Männerorden eine geschlossene Gesellschaft?
Entrich: Wir sind keine monastische Gemeinschaft. Mauern gibt es daher bei uns nicht. Schon gar nicht die sinnbildlichen. Vielmehr leben wir in der Düsseldorfer Altstadt mitten unter den Menschen, sind sichtbar mit unserer Pforte in der Andreasstraße und jederzeit ansprechbar. Da gibt es auf keiner Seite Berührungsängste. Auch innerhalb unserer Gemeinschaft erlebe ich, dass wir uns gut aufeinander zu bewegen. Wir sind alles andere als ein „closed shop“. Trotzdem reagiere ich empfindlich auf allzu viel Banales um mich herum. Denn in einem Kontext von zu viel Oberflächlichkeit hat Spiritualität keinen Platz. Einen Ort aber für geistliche Begegnung brauchen wir Ordensleute – gerade auch da, wo das Leben pulsiert.
DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist die Kommunität für jemanden, der keine Familie hat? Und verändert sich deren Bedeutung noch einmal mit zunehmendem Alter?
Entrich: Der Konvent ist für mich eine Lebensstütze und hilft mir, meinem Leben eine Ordnung zu geben; einen Rahmen, damit ich selbst nicht zerbrösele. Mit anderen zusammenzuleben ist viel intensiver, als für sich alleine zu sein. Hier ist mein Zuhause. Und natürlich wird Beheimatung im Alter noch einmal wichtiger.
DOMRADIO.DE: Alle Orden haben Nachwuchssorgen. Trotzdem gibt es auch in Ihrer Kommunität jüngere Mitglieder, die der Gemeinschaft unter Umständen noch einmal eine andere Richtung geben wollen. Stellt sich da auch schon mal die Generationenfrage mit der Schwierigkeit, dass die jungen „Wilden“ andere Ideen verfolgen als die Älteren?
Entrich: Wir haben das Glück, dass wir eigentlich jedes Jahr Novizen haben, mit denen der Altersdurchschnitt unserer Kommunität noch einmal sinkt. Da muss man immer mal wieder – gerade auch im Miteinander der Generationen – alles auf den Tisch bringen und den konkreten Tagesablauf stets neu aushandeln. Natürlich braucht es dazu Wohlwollen. Jeder ist anders und darf auch seine Meinung vertreten; dadurch muss er mir ja nicht gleich fremd sein. Der Austausch darüber mit guten Argumenten, das Gespräch bindet uns sehr. Da fliegen nicht gleich die Fetzen, selbst wenn es manchmal völlig unterschiedliche Vorstellungen gibt – auch davon, wie ein gemeinsamer geistlicher Weg aussehen soll. Da spirituell allzu sehr aufzurüsten, kann mitunter für Ungemütlichkeit sorgen. Aber am Ende muss doch jeder seinen eigenen Weg zu Gott gehen – auch wenn man über die eine oder andere Art und Weise mitunter nur staunen kann…
Ein Dominikaner, der zum Beispiel nicht predigt oder nicht betet, ist eigentlich undenkbar – es sei denn, er hat altersbedingt die Kraft dazu nicht mehr. Predigen – das ist unser Selbstverständnis, unser Profil. Und das Gebet – beginnend mit der Laudes am Morgen in der Gemeinschaft aller Mitbrüder – ist für mich der Zement, der alles bindet. Es ist verlässlicher Fix- und Angelpunkt.
DOMRADIO.DE: Sind Ordensbrüder denn auch Freunde fürs Leben?
Entrich: Hier unterscheide ich gerne: Ein Orden ist nicht der Ort, um Freundschaften zu knüpfen. Wenn das geschieht, ist das ein Geschenk. Aber Freundschaft ist noch einmal eine ganz andere Lebensdimension, die ich völlig unabhängig von meiner Kommunität erlebe. Ich würde eher sagen: Meine Freunde suche ich mir draußen, damit ich hier drinnen gut leben kann. Da sind jüngere, die mich fit halten, und alte, die mich tragen.
Im Orden dagegen haben wir Satzungen, Regeln, Konstitutionen, die das Zusammenleben erleichtern helfen. Sie sind ein Orientierungspunkt, und den nehmen wir ernst. Unsere Gelübde legen wir aus gutem Grund mit der Ordenskonstitution in den Händen ab.
DOMRADIO.DE: Wenn man "draußen" in der Welt war so wie Sie – wie schwer fällt da eine Rückkehr zurück in den Schoß der Kommunität? Und wie schwer ist es, gerade das Gelübde der Armut einzuhalten und zurück zum "einfachen Leben" zu finden?
Entrich: Die Genügsamkeit ist nicht mein Thema – erst kürzlich habe ich mich von meinem Auto getrennt. Und erst jetzt merke ich, wie sehr mich diese Entscheidung entlastet. Schwieriger ist schon die Frage der Selbst- und Fremdbestimmung. Das erfordert einen Lernprozess, sich wieder nach den Bedürfnissen und auch dem Kalender von anderen zu richten und nicht das eigene Wollen als maßgeblich zu erachten. Das muss man erst einmal wieder schaffen, fremdprophetische Signale, wie ich das gerne nenne, wahrzunehmen. Ich muss darauf achten, die Kommunität im Blick zu behalten. Denn in einer Kommunität gestattet man den anderen, Einspruch ins eigene Leben zu erheben. Rücksichtnahme ist da ganz wichtig. Ich kann nicht nur auf mich schauen, sondern muss auch zur Seite blicken. So verstanden ist eine Ordensgemeinschaft in gewisser Weise eine gute Sehschule.
DOMRADIO.DE: Dass das Zusammenleben in Männer-, aber auch Frauenorden so einfach nicht ist, hört man immer wieder. Wie viele Individualisten oder auch "Alpha-Tiere" verträgt denn eine Ordensgemeinschaft?
Entrich: Eine Kommunität ohne Reibung entwickelt keine Hitze. Und ohne Hitze gibt es keine Energie. Die aber braucht eine Gemeinschaft. Ich halte sie sogar für zwingend notwendig. Es gibt keine Kommunitätsmodelle, die auf Konformität hin angelegt oder konfliktfrei sind. Allerdings sollte die Auseinandersetzung über die Verschiedenheit unterschiedlichster Charaktere oder Temperamente konstruktiv erfolgen. Man muss sich aneinander abschleifen. Harmonie will erarbeitet, erkämpft und oft auch erlitten sein. Natürlich darf Misstrauen nicht sein. Da helfen dann auch keine Gruppenanalysen oder Supervisionen. Denn Misstrauen ist ein Keim, der eine ganze Kommunität aufsprengen kann.
Schließlich sind wir alle auf einem sehr individuellen Weg unterwegs. Das ist auch das Tolle an einem solchen Ordensleben. Daran kann ich mich wirklich freuen. Jeder hat sein Leben. Individualität bedeutet ja nicht, dass jeder seine Spielweise bekommt. Individualität heißt für mich: Jeder sucht die Spur, die Gott ihm anvertraut. Und jeder übernimmt auf dieser Spur Verantwortung. So gesehen muss jeder Konvent ein gewisses Maß an Individualistentum aushalten. Und klar ist auch: Jede Gruppe braucht eine Leitung; jemanden, der mutig vorangeht. Leitung lösen wir nach dem demokratischen Prinzip, indem wir jemanden, der dafür eine Begabung mitbringt, in diese Aufgabe wählen. Und dann greift der Gehorsam…
DOMRADIO.DE: Wie viel Selbstdisziplin oder Gottvertrauen sind dafür notwendig?
Entrich: Das hat weniger mit Disziplin als mit Selbstreflektion zu tun. Die Frage nach Gott ist letztlich die fundamentale Frage für jede Kommunität am Beginn dieses neuen Jahrtausends. Dazu gehört in meiner spirituellen Praxis auch die Meditation, die einfache Besinnung auf Gott. Er ist für mich nicht nur ein Name, eine Formel, ein energiegeladenes Wort. Mit Gott komme ich auf den Grund meines Lebens. Und je älter ich werde, desto weniger frage ich mich: Was machst Du? Sondern: Wem vertraust Du? In diesem Zusammenhang erlebe ich das Älterwerden als eine unglaubliche Raumerfahrung. Jetzt melden sich Erinnerungen an Menschen, Erfahrungen… Wunderbar! Einfach sein – das ist es. Wir sind in der Kirche viel zu kompliziert geworden.
DOMRADIO.DE: Was, glauben Sie, macht Ihre Lebensform nach wie vor wertvoll?
Entrich: Wir brauchen heute Menschen mit einer spirituellen Verbindlichkeit. Von daher haben wir Ordensleute eine wichtige Aufgabe, weil wir verlässlich und verbindlich in unserem Lebensentwurf sind, der Gott nicht ausklammert, sondern auf ihn hin orientiert ist. Wir stehen für die Fragen: Wer bist du, Gott? Was willst du, Gott? Und: Wo bist du, Gott? Für mich ist Gott nicht Lückenbüßer in meinem Leben, sondern Impulsgeber und Zentrum. Darüber spreche ich auch mit anderen. Das macht mein Leben aus. Das ist meine Identität.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.