DOMRADIO.DE: Sie sind gelernter Fernmelde-Handwerker und 1968 in den Dominikanerorden eingetreten. Heute leben Sie im Düsseldorfer Konvent direkt in der Altstadt. Mit Ruhe ist da nicht viel, oder?
Pater Manfred Entrich (Dominikaner und im Seelsorge-Bereich der Dominikanerkirche St. Andreas): Bis Mittwoch können wir schlafen. Ab Donnerstag, Freitag macht man das Fenster am besten fest zu. In der Altstadt begegnen sich ständig verschiedene Schichten. Über den Tag haben wir viele Menschen, die die Altstadt besuchen oder auf dem Weg zum Beruf sind oder zum Einkaufen. Das ist dann weniger dramatisch.
Zum Abend hin wird es dann spannend. Da kommen Junggesellenabschiede in die Stadt oder Fußball-Fans. Interessant ist, dass sehr viele, die die Altstadt besuchen, schon vorher Alkohol getrunken haben. Dann gehen sie in die Altstadt und verlieren oft die Kontrolle, was die Lautstärke betrifft. Ich erlebe auch sehr viel Streit untereinander. Die Letzten, die die Altstadt verlassen, sind diejenigen, die die Nacht durchgemacht haben und nach Hause gehen. Aber zumindest haben sie einen Ort, wo sie sich ausruhen können. Alkohol, Drogen – es gibt alles, was man sich vorstellen kann. Es ist so und man muss damit zurechtkommen.
DOMRADIO.DE: Über diese vielen Erfahrungen, die sie machen, haben sie kürzlich ihr drittes Buch geschrieben: "Zwischen Kirche und Kneipe: Auf ein Bier über Gott und das Leben". Sie sprechen mit den Menschen vor Ort über ihren Glauben im Alltag. Mit wem kommen Sie ins Gespräch?
Pater Entrich: Ich suche mir die Menschen nicht aus. Sie sprechen mich an und in der Regel kenne ich sie nicht. Ich kann mich kaum erinnern, dass ich auf jemanden zugegangen bin und gesagt habe "Hallo, mein Freund. Ich bin von Gott oder von der Kirche." Sondern sie merken, dass ich etwas anders bin. Sie sehen mich manchmal in der Kutte. Sie wissen, dass ich zur Kirche gehöre, weil ich dort ein und aus gehe. Und dann kann es sein, dass sie sagen "Ey Pfarrer, kann ich dich mal sprechen? Hast du mal ein bisschen Geld?" Das ist der Augenblick, wo ich mit ihnen reden kann. Wenn es nur um ein Essen geht, da haben wir einen Mitbruder, der eine Armenküche gegründet hat. Die läuft prima. Da schicke ich sie hin. Aber wenn Sie auf mich zukommen und sagen "Ey Pfarrer! Kann ich dir das mal erzählen?" Dann kommen manchmal Geschichten heraus, da atme ich erst mal durch und sage zu mir selbst "Manfred, sei vorsichtig. Du weißt nicht, ob du unter solcher Geschichte nicht auch so geworden wärst."
DOMRADIO.DE: Was war ein Moment, in dem sie besonders tief durchatmen mussten?
Pater Entrich: Das war die Begegnung mit einem Drogenabhängigen. Ich komme nachmittags bei uns in die Kirche und denke "Da sitzt doch jemand in der Bank. Was macht der?" Ich gehe zu ihm hin. Er hatte die Hose heruntergezogen und verflüssigte sich gerade sein Rauschmittel, zog es auf und wollte sich spritzen. Ich sage "Mensch, weißt du nicht, wo du bist?" "Doch", sagt er, "in einer Kirche. Aber wo soll ich denn sonst hin?" Das hat mich angerührt. Dann habe ich etwas gemacht, was vielleicht ungewöhnlich erscheint. Ich habe zu ihm gesagt "Okay, spritzt dich. Ich stehe Schmiere, dass keiner kommt." Danach fragte er mich, ob er mit mir reden könnte. Dazu muss man wissen, dass wenn sie einen duzen, dann respektieren sie einen. Das habe ich auch gelernt. Dann erzählte er mir seine Geschichte. Er stammt aus der ehemaligen DDR und war mit den Eltern hierhergekommen. Hatte schon den siebten Methadon-Entzug hinter sich. Aber alles hat nicht geholfen. Ich sage "Ja, wo schläfst du denn?" "Eine Bank lässt ein bisschen das Gitter vom Eingang hoch und da kann er nachts drunter kriechen und dann dort schlafen. Und das glaubt mir keiner, aber ich habe mit ihm über Kant diskutiert. So hat sich ein Verhältnis zwischen uns entwickelt, darüber schreibe ich auch in meinem Buch. Doch in letzter Zeit habe ich ihn leider nicht mehr gesehen. Deshalb habe ich ein bisschen Sorge, was aus ihm geworden ist.
DOMRADIO.DE: Wie schaffen Sie es, dass sich die Menschen ihnen dann auch tatsächlich so öffnen?
Pater Entrich: Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass ich von Natur aus ein halbwegs freundliches Äußeres habe. Das ist das eine. Zweitens: Ich bleibe stehen, wenn mich jemand anspricht. Ich laufe nicht weiter. Drittens: Wenn ein Gesprächsimpuls kommt, der ist aber nicht vertieft. Also, sowas wie "Pfarrer, willst du eine Straße kaufen? Heute billig. Ein bisschen Koks. Wir schweigen und du auch." Dann ist so eine Gesprächsbrücke ansatzweise da. Ansatzweise. Der Hauptpunkt ist: Sie müssen sich diese wenigen Minuten Zeit nehmen. Es geht hier nicht um Stunden. Das halten sie gar nicht aus. Und immer auf Augenhöhe reden. Das sind ganz kleine wenige Dinge, die ich in meinem sozialpädagogischen Zweitstudium an einer katholischen Fachhochschule gelernt habe. Die sind wichtig.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie noch einmal an den Drogenabhängigen zurückdenken, der sich in der Düsseldorfer Andreaskirche eine Spritze gesetzt hat. Stoßen Sie da in einem solchen Moment an eine Grenze?
Pater Entrich: Natürlich. Wenn ich zum Beispiel an Elly denke. Ich weiß noch, dass wir die Weihnachtsbäume aufgebaut haben. Da lag sie in der Kirche und auch ‚hackevoll‘ in der Sprache wie sie das nennen. Dann sagte ich zu ihr "Elly, komm jetzt steh auf." Und dann stand sie auf. Sie ging aber erst mit dem Versprechen, dass wir ihre Eintragungen im Fürbitten-Buch, die sie geschrieben hatte, vorlesen. Das waren mehrere Seiten. Habe ich gemacht. Auch das gehört dazu. Da kann ich nicht ‚Nein‘ sagen. Elly ist in Ruhe gegangen und zwei Tage später auf der Straße gestorben. Mich hat das sehr bewegt. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass Elly eine Wohnung hatte. Es sind mehrere, die ein Zimmer haben oder eine kleine Wohnung. Also, der Begriff obdachlos umgreift nicht alle Problemzone, sondern es sind oft Leute, die sozusagen tageweise ihr Obdach verlassen und in der Altstadt landen. Ich kenne inzwischen eine ganze Reihe Menschen und oft sind es diese Zufallsbegegnungen.
Das Gespräch führte Carsten Döpp.