DOMADRIO.DE: "Suche Frieden und jage ihm nach" - das ist ein klarer Friedens-Appell, der im Alten Testament steht, genauso wie etwa: "Schwerter zu Pflugscharen". Das ist auch ein Zitat, das man kennt. Welche Rolle spielen diese Sätze?
Dr. Gunther Fleischer (Leiter der Erzbischöflichen Bibel- und Liturgieschule in Köln): Es zeigt, welch eminente Bedeutung der Frieden im Alten Testament und in der ganzen Bibel hat. Das ist vielleicht eher überraschend. Gerade, weil ja beim Alten Testament die Assoziationen eher auf Gewalttätigkeit gehen. Das ist aber nicht das, worum es in der Bibel geht. Es geht gerade um die Schaffung von Frieden, aber angesichts des Wissens, wie gewalttätig die Welt ist.
Die große Hoffnung ist, dass irgendwann ein Friede aufkommt. Das wäre diese Jesaja-Vision, in der es überhaupt keinen Krieg mehr gibt, in der gar keiner mehr auf die Idee kommt, Krieg zu führen. Dann könnte man dementsprechend die ganze Waffenproduktion einstellen und Schwerter werden zu Nutzwerkzeugen umgeschmiedet. Das ist die eigentliche Idee. Und dann stehen da Weinberge statt Waffenhalden.
DOMADRIO.DE: Gehen wir mal in die Zeit zurück, als die Texte des Alten Testaments entstanden sind. Ich vermute mal, das war eine etwas gewalttätigere Zeit als die heutige.
Fleischer: Daran kommen wir nicht vorbei. Das ist so. Wobei man die Relationen sehen muss: Israel war ja immer ein kleines Licht unter den Völkern. Das heißt, die hatten gar nicht so viele Möglichkeiten, selber gewalttätig zu werden, im Sinne der großen Kriegsführung. Aber sie waren ständig im Blick anderer Völker, weil sie an einer interessanten geographischen Lage wohnten und siedelten. Damit waren sie ständig von Gewalt bedroht, mit der sie sich auseinandersetzen mussten.
Natürlich gehörten Kriege zum Alltagsgeschäft. Das setzt sich später weiter durch, auch wenn diese Gegenden dann Provinzen werden. Das wird besonders brutal in späterer Zeit, wenn die Griechen die Vorherrschaft übernehmen. Das Römer-Joch zur Zeit Jesu ist auch nicht gerade von Zucker.
DOMADRIO.DE: Also hat wahrscheinlich dieser Aufruf "Suche Frieden und jage ihm nach" eine ganz andere Relevanz, wenn man wirklich in Kriegsalltag steckt?
Fleischer: Natürlich, weil dieser Kriegsalltag auch sofort das eigene Leben massiv beeinflusst hat. Sei es, dass die Söhne in den Krieg ziehen mussten oder man Heere versorgen musste, die geplündert wurden und so weiter.
DOMADRIO.DE: Auf der anderen Seite haben wir, wenn wir über das Alte Testament sprechen, oftmals dieses Bild vom zornigen Gott im Kopf, der ja zum Beispiel das komplette ägyptische Heer im Meer ertränkt hat. Das ist doch auch nicht gerade eine Friedenstat, oder?
Fleischer: Das ist richtig. Man wird nicht sagen können: Gott ist nie gewalttätig. Wichtiger ist aber, glaube ich, die Sichtweise: Erstens ist es keine willkürliche Gewalt. Es ist eine Form der Antwort auf bereits erfolgte Gewalt. Die Ägypter werden ja nicht zufällig äußerst brutal vorgestellt. Es sei dahingestellt, was daran alles historisch ist und was nicht. Aber es geht darum: Gott setzt der Menschengewalt eine Grenze und spielt da nicht mit. Er lässt sich nicht vereinnahmen. Und notfalls wird auch ein solches Ende bereitet.
Wichtiger ist aber eigentlich gerade bei diesem Kampf am Meer: Es ist nicht ein Krieg, den Israel gegen Ägypten führt. Das heißt, hier liegt keine Aufforderung vor, zu den Waffen zu greifen und sich an den Ägyptern zu rächen. Sondern der entscheidende Satz des Mose, der das ganze Volk anführt, lautet: "Bleibt ruhig und seht zu, wie der Herr euch heute rettet." Das ist das Entscheidende: es geschieht eine Rettung. Die ist in unseren Augen gewalttätig. Ich glaube, da haben die Menschen damals weitaus weniger Probleme mit gehabt.
Wir müssen uns auch vorstellen, dass es wahrscheinlich kein Tausender-Heer war, was da unterging. Aber egal, wie klein oder groß diese Gruppe der Ägypter war: Israel sieht sich gerettet, unter Umständen wo es sagen muss: Wir haben da eigentlich gar nichts machen können. Wäre es in eine kriegerische Auseinandersetzung gegangen, hätten wir sowas von verloren, weil wir überhaupt keine Chance gehabt hätten. Also es geht um Rettung, nicht um Anstachelung zum Krieg.
Und noch ein zweiter Gedanke ist für die Friedensschaffung sehr wichtig: Die Bibel spricht nicht durchgängig von den bösen Ägyptern, sondern weiß darum: Es gibt eine Zeit, da waren die Ägypter gefährlich und auch eine kriegerische Macht, mit der man nicht gut auskam. Aber es gibt auch Zeiten, in denen man positiv von Ägypten reden kann. Ich denke zum Beispiel an die Josefs-Geschichte, aber nicht nur an diese.
DOMADRIO.DE: Also könnte man theoretisch das Ganze mit den Worten der Genfer Konvention übersetzen, dass ein Angriffskrieg illegal ist, dass aber ein Volk durchaus das Recht hat, sich zu verteidigen.
Fleischer: Das Verteidigungsrecht wird alttestamentarisch auf jeden Fall festgehalten. Dennoch geht die Gesamttendenz gerade im Neuen Testament – aber auch schon in den späten Texten des Alten Testaments – dahin, diesen Widerstand auch noch einmal gewaltlos zu betreiben. Wenn Sie in späte Psalmen schauen, ist zwar von einem zweischneidigen Schwert die Rede. Es sind aber die Psalmen, mit denen man betet. Also, man führt gar keinen Krieg, sondern betet um Frieden. Deswegen: "Suche den Frieden, jage ihm nach."
Es gibt auch einen Psalm, wenn man den ganz wörtlich übersetzt, heißt die Antwort auf denjenigen, der dir Böses will: "Ich bin Frieden". Also nicht: Ich wehre mich jetzt mit Worten und stelle irgendetwas Brutales dagegen, sondern: Ich bleibe bei einer Friedenshaltung. Ich bleibe in meiner Haltung der Gewaltlosigkeit. Folglich muss man sagen, es gibt schon im Alten Testament eine Entwicklung hin zu einem gewaltlosen Widerstand. Und der wird sicherlich in der Verkündigung Jesu fortgesetzt und noch verstärkt.
DOMRADIO.DE: Wenn man an die Worte Jesu denkt, an das Neue Testament oder in gewissem Sinn auch an den Gottesdienst, dann kommt mir die Formulierung "den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch" in den Kopf. Welche Signifikanz haben diese Worte Jesu?
Fleischer: Sie zeigen nochmal, dass er von einem Frieden spricht, der wesentlich umfassender und größer ist. Der Friede, den wir machen können, kommt im Letzten von einer anderen Herkunft. Das menschliche Bemühen um Frieden wird nie zu dem absoluten Frieden führen können. Diesen Frieden meint Jesus aber – einen vollkommenen Frieden, den jeder möchte und an dem jede und jeder Teil hat.
Ich glaube, das Problem von Frieden und von Friedensbeschlüssen ist: Sie funktionieren deshalb so oft nicht, weil es immer auch die Gruppe gibt, die sich von dem Frieden benachteiligt fühlt. Sie sagen, sobald ein Frieden zustande kommt, muss irgendwas aufgegeben werden. Das ist der Kompromiss. Der Friede, von dem Jesus spricht, ist kein Kompromiss-Frieden. Da wird auf Gott selbst zurückgegriffen. Es ist also etwas, was nur Gott selber schaffen kann.
Jesus greift auf eine hebräische Vokabel zurück. Eine der sehr wenigen Wörter, die alle kennen: "Schalom". Schalom ist weitaus mehr als unsere Vokabel "Friede". Man übersetzt sie eigentlich besser mit Wohlergehen. Dieses Wohlergehen bezieht sich wirklich auf alle Belange des Lebens, das körperliche, das finanziell und wirtschaftliche und auch das Wohlfühlen. Es betrachtet ebenso das wirkliche im Leben stehen und mit dem Leben versöhnt sein. All das ist damit gemeint, weil es zum Frieden dazugehört. Der politische Friede – ob innenpolitisch oder außenpolitisch – ist dann nur eine Dimension davon.
DOMRADIO.DE: Der Friedensgruß im Gottesdienst bezieht sich also nicht darauf, dass es keinen Krieg gibt, sondern es betrachtet eher etwas Zwischenmenschliches?
Fleischer: Sehr richtig. Klar, man kann für den großen Frieden beten, aber erst wenn ich dem Nachbarn und der Nachbarin die Hand reiche, ist es das Symbol, mit dem anderen im Frieden einer gewissen Versöhnung zu leben. Das muss jetzt nicht der große Liebesausbruch sein, aber es ist das Symbol dahinter: Anzunehmen, du bist anders als ich und darfst es auch sein – und trotzdem und genauso ein Gott geliebtes Kind zu sein.
Es gehört natürlich gerade neutestamentlich, aber auch schon alttestamentlich dazu: das Moment der Vergebung. Das bedeutet, wenn etwas zwischen uns liegt, dann möge das vergeben sein. Das legen wir Gott in die Hand, wenn wir uns schwer tun damit, dass er helfen möge und wir das miteinander aushalten können.
DOMRADIO.DE: Jesus wird auch Friedensfürst genannt. Er kommt, um uns den Frieden zu schenken – aber so einfach ist es auch wieder nicht. Ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium lautet: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Matthäus 10,34). Wie passt das dazu?
Fleischer: Das ist natürlich eines der Worte, das gerne mit herangezogen wird. Es geht in dieser Ankündigung Jesu mehr um eine Erfahrung. Wir müssen sehen, dass die Evangelien nicht im Blick auf die große Weltkirche entstanden sind. Sie schreiben vielmehr auf bestimmte Gemeinden hin, wo auch die Erfahrung gemacht wird, das Glaube spaltet. Die einen entscheiden sich für diesen Glauben und die anderen eben dagegen.
Das symbolisiert das Schwert, von dem Jesus spricht. Das meint nicht, ich bringe Krieg und will Krieg. Faktisch wird die Entscheidung für den Glauben und für die Nachfolge dafür sorgen, dass andere sich dagegen aussprechen. Es kommt zu Auseinandersetzungen und unter Umständen auch zu Gewalt. Christen sollen diese nicht führen, aber sie werden darauf hingewiesen, dass sie die Erfahrung machen werden. Jesus hat diese Erfahrung natürlich auch selbst gemacht.
DOMRADIO.DE: Kann man so auch das Beispiel mit der rechten und linken Wange verstehen?
Fleischer: Ja, genau. Das zeigt, wie sehr Jesus bei Widerstand nicht mit dem Schwert antwortet, sondern mit einer geschickten Reaktion. Mit dem Ausweichen entwaffnet er den Anderen, indem er so reagiert, wie der Andere es gar nicht erwartet.
DOMRADIO.DE: Die Bibel stellt mit dem Wort Frieden also immer den Zustand des Menschen in den Mittelpunkt, kann man das so sagen?
Fleischer: Ja und zwar immer mit dem Blick auf die Gewaltlosigkeit. Es darf die Hilfe von Gott her erwartet werden – auch bei dem, was einem selber an Kräften fehlt, um es auszuhalten.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.