Die Botschaft ist eindeutig: Die Menschheit sägt durch den Raubbau an der Natur an dem Ast, auf dem sie selber sitzt, sagt der Bremerhavener Biowissenschaftler Julian Gutt. Und die Karlsruher Klimaforscherin Almut Arneth ergänzt: "Die Nutzung und Übernutzung natürlicher Ressourcen durch den Menschen hat beispiellose Züge angenommen."
Die Erde hat Fieber. Am Montag hat der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen, das Pendant zum Weltklimarat, dessen Berichte Wegbereiter für das Pariser Klimaschutzabkommen waren, in Paris einen Bericht zur Artenvielfalt veröffentlicht, der alle Alarmglocken läuten lassen müsste. Danach steigt die Zahl der Arten, die von dieser Erde verschwunden sind, mit erschreckender Geschwindigkeit:
Auch bei Nutztieren schwindet Vielfalt
Von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten, die es weltweit gibt, sind rund eine Million vom Aussterben bedroht. Schon jetzt gebe es 20 Prozent weniger Arten als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, heißt es in dem Bericht, an dem 150 Experten aus 50 Ländern drei Jahre lang gearbeitet haben.
Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast 33 Prozent der Korallen und mehr als ein Drittel aller Säugetierarten im Meer seien bedroht. Nicht nur bei Wildtieren, sondern sogar bei Nutztieren schwindet die Vielfalt: Mehr als neun Prozent der gezähmten Säugetierrassen seien bis 2016 ausgestorben.
Sechs Massensterben gibt es in der Erdgeschichte - allein das sechste aber ist menschengemacht. Den Analysen zufolge gibt es dafür fünf wesentliche, vom Menschen zu verantwortende Faktoren. Wichtigster Treiber ist die veränderte Land- und Meeresnutzung: Drei Viertel der Landfläche und rund 66 Prozent der marinen Umwelt sind durch menschliche Aktivitäten signifikant verändert worden. Mehr als ein Drittel der Landfläche und fast 75 Prozent der Süßwasservorräte dienen heute der Getreide- und Viehproduktion. Auch das Wachstum der Städte vernichtet Natur. Ihre Fläche hat sich seit 1992 mehr als verdoppelt.
Klimawandel und Artenrückgang
Daneben spielen auch die direkte Nutzung von Pflanzen und Tieren sowie der Klimawandel eine bedeutende Rolle für den Artenrückgang. Hinzu kommen die Umweltverschmutzung durch Plastikmüll, Schwermetalle und Dünger sowie die Einschleppung invasiver Arten. Laut Bericht gibt es heute rund 70 Prozent mehr invasive Spezies in allen Weltregionen als noch vor 50 Jahren.
Bislang geplante politische Maßnahmen sind laut Bericht weitgehend wirkungslos verpufft. Schon 2010 beschloss die Staatengemeinschaft zwanzig Ziele zum Naturschutz, die nach der japanischen Provinz Aichi benannt wurden, darunter den Schutz von Feuchtgebieten und das Ende umweltschädlicher Subventionen bei fossilen Energieträgern. Lediglich vier seien bislang erfüllt worden.
Eine vernichtende Bilanz der bisherigen politischen Maßnahmen zieht die Göttinger Agrarökologin Teja Tscharntke. "Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt wie auch die EU-Strategie zur biologischen Vielfalt sind grandios gescheitert", erklärt sie und spricht von einem "Papiertiger". "Das Tempo der Artenverluste ist größer denn je."
Es geht um die Zukunft der Menschen
Tscharntke fordert etwa ein größeres Engagement Europas. Die EU sei Weltmeister beim Import von Agrarprodukten.
"Wir sollten nicht länger tolerieren, dass für diese Importe Regenwälder abgeholzt und indigene Völker vertrieben werden", betont sie. Der Hamburger Nachhaltigkeitsforscher Jens Jetzkowitz fordert unter anderem eine Neuausrichtung der Landwirtschaft in Europa, unter anderem mit weniger Flächennutzung.
Umzukehren seien die negativen Entwicklungen nur, wenn auf allen Ebenen unverzüglich und konsequent gegengesteuert werde, heißt es im Bericht. Das ist bisweilen schwieriger als gedacht: So kann der Anbau von Bioenergie-Pflanzen katastrophale Auswirkungen auf den Flächenverbrauch haben. Auch das Pflanzen von Bäumen kann sich negativ auf die biologische Vielfalt auswirken.
Für den Berner Pflanzenökologen Markus Fischer ist klar: Der Erhalt von Biodiversität ist nicht allein eine Umweltfrage. Es geht um die Zukunft der Menschen und ihre eigenen Lebensgrundlagen.