Millionen Deutsche können schlecht lesen und schreiben

Aus Scham die Hand verbrüht

Rund 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Schwierigkeiten, deutsche Texte zu verstehen - mit gravierenden Folgen im Alltag. Was können Eltern frühzeitig tun, damit den Kindern Lesen und Schreiben leicht fällt?

Analphabetismus ist noch weit verbreitet / © Jens Büttner (dpa)
Analphabetismus ist noch weit verbreitet / © Jens Büttner ( dpa )

DOMRADIO.DE: 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Und das, obwohl mehr als die Hälfte dieser Menschen deutsche Muttersprachler sind, also eine deutsche Schule besucht und die Sprache auch von klein auf gelernt haben. Diese Zahl geht aus einer vom Bundesbildungsministerium geförderten Studie hervor. Wie kann das denn überhaupt sein?

Sandra Schierenberg (Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung): Wir haben es mit einem Ursachenkomplex aus Elternhaus, Schule und Erwachsenenalter zu tun. Das Wichtigste ist, dass die Eltern den Kindern viel vorlesen. Wenn die Kinder nicht merken, dass Lesen auch schön sein kann, wissen sie ja auch gar nicht, wofür sie das selber können sollen. Dann fehlt von vornherein die Motivation, und das sind schlechte Ausgangsbedingungen für die Grundschule. Erwachsene, die nicht so gut lesen und schreiben können, fallen auch eigentlich schon in den ersten beiden Schuljahren auf.

DOMRADIO.DE: Das ist ganz vielen Menschen wahrscheinlich auch sehr unangenehm. Trotzdem kommen sie ja häufig ganz gut zurecht und manchmal fällt es gar nicht auf. Was sind denn deren Strategien, um trotzdem durchs Leben zu kommen?

Schierenberg: Bei Behördengängen, wenn es um Formulare geht, wird oft eine Verletzung vorgetäuscht. Da wird auch schon mal der Arm umwickelt, mit einer Mullbinde. Oder die Brille wurde vergessen. Die Betroffenen wollen vermeiden, dass die Schreibschwäche auffällt. Ich kenne auch den Fall einer Küchenhilfe, die sollte das Tagesgericht draußen an die Tafel schreiben. Sie hat Panik bekommen, weil sie das nicht schreiben konnte. Und dann hat sie sich doch tatsächlich die Hand mit heißem Fett verbrannt. Daran kann man sehen, wie schlimm solche Beeinträchtigungen für die Betroffenen sind.

DOMRADIO.DE: Wie helfen Sie denn diesen Menschen?

Schierenberg: Wir haben das ALFA-Telefon ins Leben gerufen, das ist eine Beratungsstelle: 0800 53 33 44 55. Betroffene können anrufen, aber auch Menschen, die jemanden kennen und jemandem helfen wollen. Wir haben Zugriff auf eine deutschlandweite Kursdatenbank und suchen dann einen passenden Kurs. 

DOMRADIO.DE: Wie laufen solche Alphabetisierungskurse dann ab?

Schierenberg: Die meisten Kurse finden in den Volkshochschulen statt. Das sind relativ kleine Lerngruppen von fünf bis zehn Personen. Es sind qualifizierte Dozenten tätig und jeder Schüler kann in seinem Tempo lernen. Es gibt da keine Noten, keinen Druck, keine Prüfungsangst. Die Atmosphäre ist in der Regel locker. Jeder kann dort seine Fragen stellen. Es entwickeln sich auch oft Freundschaften unter den Teilnehmern. Wenn man diesen Schritt erst einmal gewagt hat, ist das schon eine große Leistung.

Das Interview führte Verena Tröster.


Quelle:
DR