Der brasilianische Kardinal Odilo Pedro Scherer hat sich besorgt über die jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in seinem Heimatland geäußert. Noch sei unklar, in welche Richtung sich die umstrittene Präsidentschaft Jair Bolsonaros entwickle, sagte der Erzbischof von Sao Paulo am gestrigen Freitag in Trier.
Dieser setze derzeit nicht auf Dialog zwischen den politischen Lagern. "Es gibt große Auseinandersetzungen um bestimmte Entscheidungen, zum Beispiel um die Erleichterungen bei Waffenbesitz und -benutzung", sagte Scherer am Rande der Heilig-Rock-Tage, einem Fest des Bistums Trier.
Politische Polarisierung und Unruhen nehmen zu
Brasilien benötige dringend mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Investitionen in Gesundheit und Bildung. Das Land sei reich an Bodenschätzen, aber die Wirtschaftsgüter seien in wenigen Händen konzentriert, die auch die politische Macht vereinnahmt hätten. "Wir kämpfen ständig mit Gewalt, mit kriminellen Organisationen", so Scherer. Es gebe eine Polarisierung zwischen rechten und linken politischen Kräften und soziale Unruhen.
Positiv bewertete der Kardinal mit saarländischen familiären Wurzeln, dass das 1985 aus einer Militärdiktatur heraus geschaffene demokratische System Brasiliens langsam reife. Seitdem 2013 landesweite Proteste gegen die damalige Regierung von Dilma Rousseff ausgebrochen seien, herrsche «ein unruhiges Klima in der Gesellschaft». Doch das demokratische System habe diese «schwerste Krise» ohne Brüche überstanden.
Evangelikalen auf dem Vormarsch
Auch sieht der Kardinal einen wachsenden Einfluss evangelikaler Kräfte in seinem Land. Vier von zehn brasilianischen Parlamentsabgeordneten stünden den Evangelikalen nahe, die zu den stärksten Unterstützern Bolsonaros zählten. Bolsonaro selbst "identifiziert sich mit einer ziemlich rechts orientierten Moral, die die Evangelikalen vertreten". Die katholische Kirche vertrete zwar dieselbe Moral, gehe aber "nicht so radikal vor".
Scherer sagte, die katholische Kirche lege viel Wert auf eine Unterscheidung zwischen kirchlichem und staatlichem Leben. Vor allem die Laien hätten die Aufgabe, in der Politik präsent zu sein und katholische Überzeugungen und Werte zu vertreten. Pfarrer oder Bischöfe gehörten nicht in die Politik. "Wir lassen uns nicht wählen, das ist unsere Orientierung." Die Anführer der Evangelikalen seien hingegen im Parlament vertreten, "und was sie in der Kirche predigen, predigen sie auch im Parlament".
Die Kirche positioniere sich jedoch deutlich zu sozialethischen Fragen, sie äußere sich kritisch etwa zum Drogenhandel, zu den Menschenrechten und zur Gewalteskalation in dem Land. "Da gibt es auch Konfrontationen mit der Regierung."