Ein Schicksal mit Folgen: Mitte der 1990er Jahre waren die philippinischen Straßenkinder Marlyn und Pia in Manila in die Fänge zweier Sextouristen aus Deutschland und den Niederlanden geraten. Zuflucht fanden sie bei Pater Shay Cullen im Kinderschutzzentrum Preda. Neben der Therapie konnten die Mädchen auch mithelfen, die flüchtigen Täter anzuklagen und zu verurteilen - erstmals auch in deren Heimat.
Der spektakuläre Fall gab den Anstoß für den WDR-Tatort "Manila" und auch für den Start der Aktion Schutzengel des katholischen Hilfswerks missio vor genau 20 Jahren. Marlyn Capio ist heute 38 und eine wichtige Mitarbeiterin von Preda.
Katholische Nachrichten Agentur (KNA): Frau Capio, Ihr Schicksal wurde vor mehr als 20 Jahren als Vorlage für den Tatort "Manila" bekannt. Darin haben die Kommissare Ballauf und Schenk einen Mann gejagt, der auf den Philippinen und in Deutschland Kinder missbraucht hat. Wie wichtig war dieser Film?
Marlyn Capio (Sozialarbeiterin im Kinderschutzzentrum Preda): Sehr wichtig, denn so wurde vielen Menschen in Deutschland das ganze Problem erstmals bewusst: Dass es Kinder gibt - so wie ich damals eins war -, die auf den Philippinen und auch in anderen Ländern eingesperrt und immer wieder missbraucht werden, und dass die Täter viel zu oft ungeschoren davonkommen. Alleine auf den Philippinen gab und gibt es Hunderttausende solcher Schicksale. Und nicht nur dort.
KNA: Welche Rolle spielt es, dass die Täter verfolgt, vor Gericht gebracht und bestraft werden - erstmals auch in ihren Heimatländern? So wie es bei Ihrem Peiniger der Fall war.
Capio: Das ist ganz entscheidend! Denn jedes Urteil sendet das Signal an die Täter aus: Wir können Dich kriegen - überall auf der Welt - und dann wirst Du auch konsequent bestraft für Deine Taten. Und es ist ganz entscheidend für die Opfer - das kann ich ja aus eigener Erfahrung sagen - zu sehen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden und dass damit auch anerkannt wird, welches Unrecht mir angetan wurde. Zu sehen, dass es noch Gerechtigkeit gibt.
KNA: Ein Vorkämpfer gegen Sextourismus und Kinderprostitution auf den Philippinen ist Pater Shay Cullen. In seinem Kinderschutzzentrum Preda waren Sie selbst in Therapie, und seit elf Jahren sind sie dort aktiv als Sozialarbeiterin und Therapeutin. Wie wird den Opfern hier konkret geholfen?
Capio: Da gibt es viele verschiedene Therapien, mit denen sie ihre tiefen Verwundungen und Traumata überwinden und danach wieder ein einigermaßen normales Leben führen können. Und viele von ihnen, so wie ich, haben hier auch beschlossen, danach selbst anderen Kindern zu helfen und sie aus diesem Teufelskreis von zerstörten Familien, Sextourismus, Missbrauch und Drogen zu befreien. Dazu kommt die Hilfe für die Kinder und Jugendlichen in Gefängnissen und seit kurzem der Kampf gegen Cyber-Sex, der nochmals eine ganz neue Dimension bedeutet.
KNA: Können Sie allen Opfern helfen? Oder gibt es auch Rückfälle?
Capio: In den elf Jahren, die ich bei Preda arbeite, haben wir 95 Prozent der Opfer wirklich "heilen" können, schätze ich mal. Bei den anderen 5 Prozent sind einige wieder auf der Straße und in der Szene gelandet, und unsere Streetworker versuchen, sie wieder von dort weg zu bekommen. Zu wieder anderen haben wir keinen Kontakt mehr und wissen auch nicht, was aus ihnen geworden ist.
KNA: Sie haben das neue Problem Cyber-Sex angesprochen. Ist das weniger schlimm, weil die Kinder ja nicht angefasst und körperlich misshandelt werden?
Capio: Könnte man meinen. Und es gibt sogar Eltern, die ihre Kinder dafür hergeben mit genau dieser Argumentation nach dem Motto: "Besser als wenn sie mit irgendwelchen Männern aufs Zimmer gehen." Aber sie unterschätzen die seelische Grausamkeit und die furchtbaren Folgen für das weitere Leben der Kinder, wenn sie vor der Kamera irgendwelche Rollenspiele machen, sich ausziehen und alles mögliche tun sollen, um die User im Netz aufzugeilen. Wie sollen diese Kinder ein normales Verhältnis bekommen zu ihrem Körper, zu Sexualität, Liebe und Nähe?
KNA: Welches Ausmaß hat das Problem?
Capio: Schwer zu sagen, aber es nimmt auf alle Fälle enorm zu. Auch weil es weniger risikoreich ist für die Nutzer von Kinderpornografie, als wenn sie hierher kämen, um Kinder vor Ort zu missbrauchen. Und sicher gibt es auch etliche Männer, die beides tun. Oder durch Cybersex angeturnt werden, hierher zu kommen und sich dann leibhaftig an den Kindern zu vergreifen.
KNA: Was kann man dagegen tun?
Capio: Wir bei Preda helfen diesen Opfern genauso wie den anderen. Außerdem ermitteln wir auch hier undercover und versuchen, die Täter zu überführen und zu verfolgen. Die Frage ist, was Polizei, Justiz und der Staat tun müssten. Und da gibt es viele Probleme. Allen voran die Korruption. Da können Gesetze noch so streng und gut sein, aber wenn sich niemand dran hält und wenn Leute sich schmieren und bestechen lassen, wird es schwierig.
KNA: Wie wichtig ist die Aktion Schutzengel von missio für Ihre Arbeit?
Capio: Die Aktion Schutzengel hat von Anfang an viel dazu beigetragen, das Thema Sextourismus und Kinderprostitution überhaupt in die Öffentlichkeit zu bringen. Und zu zeigen, was das für die Opfer bedeutet. Aber auch, dass man etwas tun kann - in jeder Hinsicht: den Opfern helfen und die Täter hinter Gitter bringen. Natürlich sind auch die Spenden aus Deutschland bis heute wichtig für unsere Arbeit.
KNA: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie haben Sie das Ganze eigentlich verarbeitet? Können Sie heute ein "normales Familienleben" führen?
Capio: Gute Frage. Ich denke schon. Ich habe einen guten Mann - aus Deutschland übrigens - und einen Sohn. Meine Familie war damals total zerstört, nachdem mein Stiefvater der erste war, der mich missbraucht hat, und meine Mutter mir lange nicht geglaubt hat. Nach den Therapien habe ich aber wieder angefangen zu träumen, vor allem von einer glücklichen Familie. Einer eigenen Familie, aber auch von einer Aussöhnung mit meiner Mutter und dem Rest meiner Familie. Das war nicht einfach, aber es hat geklappt. Und jetzt ist es tatsächlich meine Mutter, die auf meinen Sohn aufpasst, während ich hier in Deutschland bin.