DOMRADIO.DE: Was denken Sie, wenn Sie hören, dass die Zahl der Asylsuchenden Venezolaner in den ersten vier Monaten des Jahres um 121 Prozent zugenommen hat?
Milsy Liebezeit (Exil-Venezolanerin und Aktivistin): Diese Zahl überrascht mich gar nicht. Es ist das Ergebnis eines massiven Exodus der Venezolaner. Die Flucht beginnt in Lateinamerika, geht weiter in andere Ländern und führt viele bis nach Europa. Allein in Deutschland sind nach den Zahlen der OECD 15.000 Venezolaner gelandet. Es wird geschätzt, dass bis Ende dieses Jahres um bis zu 25.000 Venezolaner in Deutschland leben werden.
DOMRADIO.DE: Noch einmal auf den Punkt gesagt: Wovor fliehen diese Menschen aus Venezuela?
Liebezeit: Die fliehen vor dem Tod. In Venezuela gibt es so gut wie keine Lebensmittel und Medikamente mehr. Strom, Wasser und Benzin sind sowieso nicht mehr vorhanden. Die Leute flüchten, um irgendwo Sicherheit zu finden. Um ihre Leben zu retten.
DOMRADIO.DE: Was wissen Sie über die Situation der geflohenen Venezolaner in Deutschland? Haben die Chancen auf Asyl?
Liebezeit: Nicht unbedingt. Gerade die Venezolaner, die in Deutschland Asyl suchen, werden nur akzeptiert, wenn sie aus politischen Gründen Asyl suchen. Venezuela ist immer noch nicht als Flüchtlingsland anerkannt, weil es noch nicht als Kriegsland definiert wird – diese Anerkennung fehlt. Derzeit werden ungefähr 30 Prozent der Asylanträge akzeptiert.
DOMRADIO.DE: Der Machtkampf zwischen Machthaber Maduro und seinem Herausforderer Guaidó hält in Venezuela unvermindert an. Wie wird es weitergehen?
Liebezeit: Momentan weiß keiner, wie das weitergehen soll. Es könnte sein, dass man über den Dialog eine friedliche Lösung findet. Es könnte aber auch zu einem militärischen Eingriff kommen. Viele Venezolaner wünschen sich das, weil sie gerade keinen anderen Ausweg sehen. Ich nehme an, dass immer mehr Venezolaner in die benachbarten Ländern und nach Europa flüchten werden. Die ersten Länder, in denen sie Asyl suchen, sind Portugal, Spanien und Italien. Das liegt an der verwandten Sprache und daran, dass viele Venezolaner in diesen Ländern Familien haben.
DOMRADIO.DE: Wie würde eine Fluchtursachenbekämpfung mit Blick auf Venezuela aussehen?
Liebezeit: Die einzige Lösung wäre, glaube ich, dass dieses Regime, die Diktatur beendet wird und dass man sofort mit einem Wiederaufbau beginnt. Es muss mehr Druck auf das Regime ausgeübt werden – nicht nur über Sanktionen. Die Länder in Lateinamerika, die die meisten Probleme mit dieser Flüchtlingsbewegung haben, sollten sich dafür zusammenschließen.
DOMRADIO.DE: Wir haben jetzt über die lateinamerikanischen Staaten gesprochen. Wie sollten sich denn die Bundesregierung und Europa angesichts der neuesten Entwicklungen verhalten?
Liebezeit: Es gibt ein massives Problem für die Venezolaner, die sich in Deutschland legal aufhalten. Ihre Reisepässe und Dokumente können derzeit nicht erneuert werden. Die Prozesse sollten da vereinfacht werden, damit die Leute mit ihren Aufenthaltsgenehmigungen weiterhin legal in Deutschland bleiben können.
Asylanträge sollten aus humanitären Gründen anerkannt werden. Das würde die Verfahren beschleunigen und die Ausweisungen würden vielleicht weniger werden. Und dann haben die Menschen auch bessere Möglichkeiten, sich in Deutschland zu integrieren. Denn diese Menschen rennen wirklich voller Furcht aus ihrem Land und wissen nicht, wie es weitergehen soll.
Das Interview führte Hilde Regeniter.