Weltweit sind mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor. 70,8 Millionen Flüchtlinge zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im vergangenen Jahr - doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren. Einen Negativrekord stellte Äthiopien auf: Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden hier 2018 neu vertrieben - in keinem anderen Land der Welt waren es mehr. 98 Prozent von ihnen flohen von einer Landesregion in eine andere - damit verdoppelte sich die bisherige Anzahl der Binnenflüchtlinge.
In dem Vielvölkerstaat am Horn von Afrika sind gewaltsame Konflikte zwischen den rund 100 verschiedenen Ethnien die Ursache für Flucht und Vertreibung. Äthiopien gehört mit etwa drei Millionen zu den fünf Ländern weltweit, in denen die meisten Binnenvertriebenen leben. Insgesamt sind mit 41,3 Millionen mehr als die Hälfte der weltweit gezählten Flüchtlinge innerhalb ihres Heimatlands auf der Flucht.
"Niemand sieht uns, keiner hilft uns"
Obwohl Äthiopien und der seit 2018 amtierende Ministerpräsident Abiy Ahmed für ihren Reformkurs und die Flüchtlingspolitik international Lob erhalten, hat sich die Sicherheitslage in vielen Regionen des Landes zuletzt zugespitzt. "Der gegenseitige Hass verschiedener Stämme und Gruppen hat dramatische Ausmaße angenommen", sagt der Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Stefan Heße, der sich Ende Mai vor Ort ein Bild der Lage machte. Gerade die Binnenflüchtlinge seien in einer verzweifelten Situation, weil sich für sie niemand zuständig fühle.
Tausende von ihnen leben in einem provisorischen Camp in der Nähe der Stadt Gonder. "Niemand sieht uns, keiner hilft uns", sagt Familienvater Adissu. Er gehört der Volksgruppe der Kemant an und ist mit seiner Frau und den Kindern vor Auseinandersetzungen mit der Volksgruppe der Amharen geflohen. "In den Zelten ist es kalt, wir schlafen auf dem Boden, wir haben keine Decken, wir haben nichts zu essen und kein Wasser."
In der Nähe betreiben zwei Ordensschwestern eine Sozialeinrichtung, spontan haben sie ihre Tore für die Vertriebenen geöffnet. Rund 250 Kinder gehen auf dem Ordensgelände zur Schule und erhalten ein Mittagessen. Viele von ihnen seien traumatisiert, sagt Schwester Theresa. Es gebe Berichte von brutalen Übergriffen, einigen Kemant-Angehörigen seien die Ohren abgeschnitten worden, "um zu zeigen, auf wen sie hören müssen". Solche Taten erzeugten eine Spirale der Gewalt.
Die zweitmeisten Flüchtlinge aufgenommen
Äthiopien kämpft mit vielen Herausforderungen. Neben den rund drei Millionen Binnenvertriebenen hat das Land mit etwa einer Million Menschen in Afrika die zweitmeisten Flüchtlinge aufgenommen - aus von Krisen geschüttelten Nachbarstaaten wie dem Südsudan, Somalia oder Eritrea.
Allein 401.600 Flüchtlinge aus dem Südsudan leben in der äthiopischen Grenzregion, die meisten in Flüchtlingscamps, ein Teil in örtlichen Gemeinden. Eines der Lager ist das Jewi Refugee Camp in Gambella mit rund 64.000 Bewohnern. Seit März 2015 gibt es das Camp - ebenso lange leben Kailech und Kame Machar hier. Die beiden Brüder, 23 und 25 Jahre alt, flohen vor Auseinandersetzungen in ihrer südsudanesischen Heimat.
In dem von der äthiopischen Flüchtlingsagentur ARRA und dem UNHCR betriebenen Lager gehen die beiden zur Schule. Was nach dem Schulabschluss kommt? Kailech und Kame blicken sich unsicher an. Kailech schüttelt den Kopf. Obwohl es den Campbewohnern nicht nur an Perspektiven, sondern an fast allem fehlt - mehr als zehn Prozent der Campbewohner sind unterernährt - blicken manche Einwohner Gambellas mit Neid auf sie.
Versöhnungskommission soll Konflikte befrieden
Mit rund 40.000 Einwohnern ist die Stadtbevölkerung kleiner als die im Camp. Auch die Lebensbedingungen sind oft schlechter. Etwa jeder dritte Äthiopier lebt unterhalb der Armutsgrenze - in Gambella sind es mehr. Es gibt kaum Arbeit, keine Hoffnung. Spannungen sind programmiert.
Trotz der zahlreichen Problemfelder setzt Äthiopien als eines der ersten Länder weltweit den "Umfassenden Rahmenplan für Flüchtlingshilfemaßnahmen" um, der Teil des Ende 2018 von den Vereinten Nationen beschlossenen Globalen Flüchtlingspakts ist.
Zudem soll eine Versöhnungskommission unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Addis Abeba, Kardinal Berhaneyesus Souraphiel, helfen, die Konflikte im Land zu befrieden. Eines macht die Regierung jedoch auch deutlich: Ohne internationale Unterstützung werde Äthiopien die Herausforderungen durch die Millionen Flüchtlinge kaum bewältigen können.